Analyse: „Arbeiterführer“ Gabriel ist zurück
Berlin (dpa) - Um kurz nach 10.00 Uhr ist es soweit. Er ist wieder da. Sigmar Gabriel taucht hinter einer riesigen Plakatwand auf. Im proppevollen Willy-Brandt-Haus wird geklatscht. Zaghaft. Danach tritt eine angespannte, fast gespenstische Stille ein.
Gabriel wird von den meist älteren, grauhaarigen Gästen beäugt wie ein Fossil. Offensichtlich haben sich viele Genossen - trotz aller Dementis - doch ernsthaftere Sorgen um ihren Vorsitzenden gemacht.
Der Vizekanzler hat eine kleine Frau mit braun-grauen Stoppelhaaren im Schlepptau. Wie sich später herausstellt, wird sie als eine Art Geheimwaffe dem angeschlagenen SPD-Chef helfen, der Gerechtigkeitskonferenz einen hohen Unterhaltungswert zu geben. Die Rede ist von Susanne „Susi“ Neumann.
Eine Betriebsrätin mit Krebs, die 38 Jahre als Putzfrau malocht hat, 725 Euro Rente erwartet und nur dank „ihres lieben Mannes“ nicht zum Sozialamt gehen muss. Neumann war Mitte April in der ARD-Talkshow von Anne Will. Dort lieferte sie sich mit der Düsseldorfer Regierungschefin Hannelore Kraft ein Duell. Kraft überredete die Putzfrau mit der großen Klappe hinterher, in die SPD einzutreten.
Jetzt sitzt Frau Neumann plötzlich als Assistentin von Gabriel auf der großen Bühne. Sie wolle der SPD helfen: „Wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nichts mehr.“ Gabriel stimmt ihr zu: „Ich finde das ein nachvollziehbares Argument.“ Am heißen Himmelfahrts-Wochenende fragte sich ja die halbe Republik, ob Gabriel selbst bald weg ist.
Zum großen Verdruss der SPD hatte der „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort eine steile Rücktrittsthese in den Raum gestellt. Heute ruderte Markwort mit der nicht minder bemerkenswerten Erklärung zurück, er sei von seinem Informanten in der SPD wohl „missbraucht“ worden, um den geplanten Putsch gegen Gabriel in letzter Minute zu verhindern.
Gabriel geht in der Dreiviertelstunde, die er sich für seine Rede nimmt, mit keinem Wort darauf ein. Anfangs wirkt er für seine Verhältnisse dennoch gehemmt. Dann kommt der Goslarer in Fahrt. Gabriel sagt viele Dinge, die bemerkenswert sind. Es ist eine linke Rede.
Hinterher sagen prominente Vertreter des linken Flügels mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, Gabriel scheine - anders als nach der 74-Prozent-Klatsche beim Parteitag, wo er trotzig seinen wirtschaftsfreundlichen Mitte-Kurs verteidigte - langsam begriffen zu haben, was die Partei von ihm wolle.
Die pauschale Abgeltungsteuer, ein Baby des Ex-Finanzministers und vormaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, will Gabriel nach der nächsten Wahl abräumen, damit viele Extra-Steuermilliarden in die Bildung fließen können. Arbeit dürfe nicht stärker besteuert werden als Kapital: „Wie konnte das eigentlich einer Partei der Sozialdemokratie passieren?“
In diesem Stil geht es weiter. Bürgerversicherung, gleicher Lohn für Männer und Frauen, Gabriel zündet ein Lagerfeuer nach dem anderen an, an dem sich Ursozialdemokraten und „kleine Leute“ wärmen sollen. Schonungslos beschreibt er aber auch die Krise der SPD („Natürlich spüren wir den tiefen Vertrauensverlust“), die seit Schröders Wahlsieg 1998 und den Agenda-Reformen rund zehn Millionen Wähler verlor: „Fehler zu machen, ist nicht schlimm, sie nicht zuzugeben, ist schlimm.“
Schwingt da auch Selbstkritik mit? Gabriel, der sich mit seinen Kurswechseln und rüden Auftritten intern viele Feinde gemacht hat, blickt nach vorne. Die SPD müsse die Wirtschaft modernisieren, damit soziale Sicherheit überhaupt bezahlbar bleibe.
Reicht das? Sind Wahldebakel wie zuletzt in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, wo die SPD nur noch vierte Kraft ist, nicht ein Menetekel, dass das sozialdemokratische Zeitalter endgültig passé ist, die SPD sich radikal neu erfinden muss?
Genau das verlangen die zur Gerechtigkeitskonferenz eingeladenen Soziologen Heinz Bude und Claus Leggewie. Bude seziert den Aufstieg der AfD auf Kosten der SPD. Die Rechtspopulisten würde eine „perverse Solidarität“ auf sich vereinen, weil viele Leute nicht mehr wüssten, wohin mit ihren Ängsten. Die SPD müsse mehr riskieren.
Auch Leggewie moniert, mit klassischer Umverteilung über Rente, Bildung und mehr Steuern werde das nichts: „Das bringt ihnen keine neuen Wähler.“ Die SPD dürfe den Klimawandel nicht den Grünen überlassen, die Partei brauche einen langen Atem: „Ihr seid sowieso die älteste Partei, in jeder Hinsicht“, spottet Leggewie.
Den größten Applaus heimst aber Putzfrau „Susi“ Neumann aus dem Pott ein. Sie regt sich auf, dass die SPD nichts gegen befristete Arbeitsverträge in der Wirtschaft tut. Sorry, sagt Gabriel, war mit der Union nicht zu machen. „Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“, fragt Frau Neumann. Der Saal jubelt. So ist das bei der SPD. Auch auf der Regierungsbank immer Opposition.
Dann schnappt sich Gabriel den Soziologen Leggewie und fährt mit ihm im Lift nach oben. Wann es für die SPD wieder aufwärts geht, steht in den Sternen. Wie schwer es alle Sozialdemokraten in Europa gerade haben, zeigt der Rücktritt des österreichischen Kanzlers Werner Faymann, der mitten in den SPD-Kongress platzt. Ein Genosse nimmt es mit Galgenhumor: „Markwort hatte doch Recht. Er hat nur Faymann mit Gabriel verwechselt.“