Analyse: Braucht es eine Leitkultur?
Berlin (dpa) - Iris Berben spielt eine Lehrerin, die Ärger mit einer muslimischen Schülerin hat. Das Mädchen trägt Kopftuch, will beim Sport nicht mitmachen und betet heimlich im Schulkeller. Die Debatte um Multikulti ist in der Primetime des Fernsehabends gelandet.
Das war gerade im ZDF-Film „Die Neue“ zu sehen. Berben steht dort auf einmal vor schwarz verhüllten Schülern in Burkas, die Klasse ist außer Rand und Band. Deutschland, im Herbst 2015?
Die Diskussion um Integration gibt es immer wieder. Was wird jetzt passieren, in der Flüchtlingskrise, wenn Hunderttausende Menschen aus anderen Kulturen nach Deutschland kommen?
Eine neue Wertedebatte ist da. Sie reicht von den Talkshows bis ins Odenwald-Städtchen Hardheim. Dort sollten die Flüchtlinge mit einem Leitfaden lernen: „Deutschland ist ein sauberes Land und das soll es bleiben.“ Riesenrummel und Empörung - die Benimmregeln (inklusive Toilettenbelehrung) klangen für viele, als sei da ein Haufen Ferkel über die Grenze gelangt. Aber auch Zustimmung gab es. Etwas staatstragender versuchte es Celle. Die niedersächsische Kleinstadt plakatierte das Grundgesetz auf Arabisch und in anderen Sprachen.
Auch der Altrocker Peter Maffay, der mit 13 seine Heimat in Rumänien verließ, hat dazu eine Meinung. „Alle, die hier Asyl suchen, sollten das Grundgesetz vorgelegt bekommen und mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie es auch gelesen haben“, forderte Maffay wie ein Politiker in der „Bild am Sonntag“. „Was wir nicht verkraften werden, sind Parallelgesellschaften.“
Rückblick. Um 2000 war es der CDU-Politiker Friedrich Merz, der die deutsche „Leitkultur“ beschwor. Ein umstrittener Begriff für: Wer hier lebt, soll sich anpassen. Später kamen die Berliner SPD-Politiker Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowksy mit markigen Worten. „Deutschland schafft sich ab“, schrieb Sarrazin 2010 in einem Buch über die wachsende Zahl der Muslime. „Kopftuchmädchen“ klingt seitdem wie ein Schimpfwort.
In der Flüchtlingskrise sind es CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und Bundestagspräsident Norbert Lammert, die sich zum Begriff „Leitkultur“ äußern. Lammert sagt: Wer nach Deutschland komme, wandere nicht in die Bundesliga ein, sondern ins Grundgesetz. Scheuer hätte gerne von ARD und ZDF einen Kanal für „Deutsches Integrationsfernsehen“.
Gemeint sind bei all dem oft die als rückständig empfundenen Seiten des Islams. In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime. Wie groß der Zuwachs durch die Flüchtlingskrise wird, ist offen.
Dass nicht alle Muslime quasi mit dem Grundgesetz unter dem Kopfkissen schlafen und der Islam nicht immer zum deutschen Alltag passt, weiß man aus Berlin-Neukölln mit seinen 326 000 Menschen aus 160 Nationen. Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kennt die Fragen: „Dürfen Kinder in der dritten Klasse noch gemeinsam vor dem Schwimmen duschen oder ist das gegen den Koran?“ Oder: „Darf ein Osterei bemalt werden?“ Ihre Meinung: „Wir haben in unserem Land klare Regeln. Ich sehe nicht ein, warum sie für bestimmte Leute nicht gelten sollen.“
Werden sich diese Probleme verschärfen, wenn es mehr Muslime gibt?
„Das kann man so nicht sagen! Unser Problem sind nicht die Muslime an sich“, sagt Giffey. „Sondern erstens Bildungsferne und zweitens diejenigen, die nicht nach den Grundsätzen der Verfassung leben. Es gibt Muslime, die ganz demokratisch eingestellt sind.“
Der Begriff „Leitkultur“ ist für sie nicht mehr haltbar, in Zeiten, in denen so viele Menschen aus so vielen Nationen zusammenleben. Richtschnur ist für sie die Verfassung. Als Giffey erlebt hat, wie der Vertreter eines Moscheevereins ihr als Frau im Rathaus nicht die Hand geben wollte, sagte sie ihm: Das zerstöre die Basis für eine Zusammenarbeit.
Wie könnte es weitergehen? Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus (Universität Erlangen-Nürnberg) sagt, Deutschland brauche, wie vom Rat für Migration empfohlen, dringend ein neues Leitbild, keine Leitkultur. „Eine aktuelle Erzählung darüber, was Deutschland in Europa, in der Welt ist und was es sein will.“ Das lasse sich nicht von oben vorschreiben, sondern sollte in einer Demokratie aus einer breiten Diskussion hervorgehen, so Spielhaus.
Dass durch die Flüchtlinge die gesellschaftlichen und kulturellen Werte in Deutschland bedroht werden, glaubt zwar nur eine Minderheit - immerhin aber doch ein Drittel, wie das ZDF-„Politbarometer“ Anfang Oktober ermittelte.
Werden sich die Deutschen selbst denn ändern? Ist es naiv, zu glauben, dass durch die vielen Flüchtlinge hier lebende Ausländer irgendwann weniger als Fremde wahrgenommen werden? Nicht die Zahl der Kontakte sei entscheidend, erklärt Spielhaus, sondern die Qualität. „Wenn ich zum Bäcker gehe, ändert das nicht viel an meinen Einstellungen. Anders ist das, wenn man gemeinsam die Schulbank drückt, im Chor singt, oder im Verein arbeitet.“
Was Spielhaus stört, ist, wenn Flüchtlinge „im Paket“ wahrgenommen werden. „Das Wichtigste ist, dass nicht pauschalisiert wird.“ Die Wertedebatte geht für die Wissenschaftlerin an den Problemen vorbei. „Ich habe keine Angst um Werte in Deutschland.“ Der Film mit Iris Berben hat eine versöhnliche Botschaft: Das Mädchen mit dem Kopftuch ist integriert, am Ende liest die Klasse Goethes „Faust“.