Analyse: Cameron pokert um eine andere EU
Brüssel (dpa) - Es droht der ganz große Krach. Großbritanniens Regierungschef David Cameron will eine völlig andere Europäische Union. Und sollte er die nicht bekommen, so könnten die Briten 2017 bei einer Volksabstimmung entscheiden, dass sie der EU nicht länger angehören wollen.
Wirklich überrascht hat Camerons Londoner Drohrede in Brüssel nicht - aber sie ist der Beginn einer brandgefährlichen Debatte innerhalb der Union. Cameron spielt auf dem EU-Parkett nun mit dem maximalen Einsatz.
Der Ausgang ist ungewiss, sagen EU-Diplomaten. Klar ist nur: Es wird spannend. Denn nach den Wahlen zum EU-Parlament vom Frühjahr 2014 steht der Union eine neue Vertragsdebatte ins Haus. Dann sollen - so wünschen es EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und manche Regierungschefs - die 27 EU-Staaten im Angesicht der Krise enger als bisher zusammenrücken. Mehr Finanzkontrollen auf EU-Ebene, mehr gemeinsame Außenpolitik, mehr Befugnisse für das Europaparlament und noch einiges mehr. Kurz: mehr Integration.
In diese Debatte stößt Cameron mit genau entgegengesetzter Zielrichtung: Er und seine konservativen Parteifreunde wollen weniger Integration. Und dabei stellt Cameron ein Ultimatum. Falls es bis 2017 keine Einigung gibt - und drei Jahre sind bei Vertragsdebatten in der EU erfahrungsgemäß eine sehr kurze Zeit - droht der britische Austritt.
„Wir können nicht alles harmonisieren“, lautet Camerons Credo. Die EU bestimme über die Arbeitszeiten britischer Krankenhausärzte, das müsse aufhören. „Wir brauchen eine größere und bedeutendere Rolle für die nationalen Parlamente“, ist ein anderer Kernsatz - der für Unmut im zunehmend selbstbewussteren Europaparlament sorgt. „Störende Regulierung“ aus Brüssel dürfe nicht länger die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. „Niemals“ wolle London für eine engere wirtschaftliche und politische Integration eintreten.
Beim Zeichnen eines unvorteilhaften Bildes der „erstarrten und ineffizienten Entscheidungsfindung“, „teurer EU-Agenturen“ und einer „immer größer werdenden EU-Kommission“ ließ sich Cameron auch von Tatsachen nicht beirren. So behauptete er, es gebe keinen EU-Ministerrat für den Binnenmarkt. Den gibt es, er heißt allerdings Wettbewerbsrat.
Auch die Forderung, der EU-Vertrag müsse erlauben, dass manche Länder „schneller und weiter“ voranschreiten als andere, verblüffte. Am Vortag hatten die Finanzminister gerade beschlossen, mit sogenannter „verstärkter Zusammenarbeit“ die Steuer auf Finanztransaktionen nur für einen Teil der EU-Staaten einzuführen. So steht es im Lissabon-Vertrag. Schon seit 2009.
Cameron beklagte, die Kluft zwischen der EU und den Bürgern sei dramatisch und bedrohlich größer geworden. Zu dieser Feststellung gab es keinen Widerspruch. Vor der selbst aufgebauten Drohkulisse empfahl er sich den anderen EU-Regierungen als Advokat des weiteren Verbleibs Großbritanniens in der EU. Er sei für die EU. Sie müsse nur eine andere werden.