Analyse: Ermittler tappen im Dunkeln
Washington (dpa) - Barack Obama reagiert prompt und entschlossen. Nach dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon tritt der US-Präsident innerhalb weniger Stunden gleich zweimal vor die Kameras. „Dies ist ein abscheulicher und feiger Akt“, sagt Obama.
Kurz und schneidend sind seine Sätze. Erstmals nimmt er an diesem Dienstag auch das hässliche „T-Word“ in den Mund - das Massaker sei ein „Terrorakt“. Über dem Weißen Haus weht die Fahne auf halbmast. Obama weiß: Dies ist die Stunde des Präsidenten - der Anschlag von Boston könnte zur größten Herausforderung seiner Amtszeit werden.
Mindestens drei Tote, über 170 Verletzte, heißt die offizielle Bilanz am Dienstag (Ortszeit). Vielen Verletzten mussten Arme oder Beine amputiert werden. Es sind dies die Horrornachrichten, die Millionen Amerikaner nie wieder hören wollten. Immer wieder flimmern die Bilder dunkler Rauchsäulen und panisch fliehender Menschen in Boston über die TV-Kanäle. Schmerzhafte, quälende Erinnerungen an den 11. September 2001 werden aufgerissen. Amerika hatte Glück gehabt - jahrelang war es vom Terror verschont geblieben.
„Dies ist eine Erinnerung, dass der Krieg gegen den Terror noch längst nicht beendet ist“, sagt der republikanische Terrorismusexperte Peter King grimmig in die Mikrofone. Im selben Atemzug verlangt er, dass die Ausgaben für die Sicherheit keinesfalls gekürzt werden. Kaum 24 Stunden nach dem Schrecken von Boston deutet sich bereits die politische Auseinandersetzung der nächsten Wochen, wenn nicht der nächsten Monate an.
Obama, die Regierung und die Sicherheitsbehörden stehen unter immensem Druck. Das Problem: Der Präsident muss auch 20 Stunden nach dem Massaker eingestehen, dass die Ermittler noch im Dunklen tappen, wer genau hinter dem Verbrechen steht. Noch am Dienstagvormittag (Ortszeit) kann die Bundespolizei FBI keinen Verdächtigen präsentieren. Es gibt nicht einmal Festnahmen. Mehr noch: Nicht einmal Spekulationen, wer hinter dem Massaker stecken könnte, machen die Runde - selbst die Medien halten sich auffallend zurück.
Eine der wenigen Spekulationen wagt die „New York Times“: Die Sprengkörper von Boston hätten Ähnlichkeit mit der Bombe bei den Olympischen Spiele 1996 in Atlanta. Damals hatte ein Mann eine mit Nägeln gefüllte Rohrbombe gezündet. Zwei Menschen starben, 100 wurden verletzt. Der Täter Eric Robert Rudolph bekam lebenslänglich. „Homegrown terrorism“ nennen das die Amerikaner - einheimischer Terrorismus.
Handelt es sich auch in Boston um einen solchen „einsamen Wolf“, einen psychisch belasteten Einzeltäter, der aus irgendeiner angestaunten Wut heraus zum Mörder und Terroristen wurde?
Auch ein ehemaliger FBI-Agent glaubt an eine solche Erklärung - „aufgrund der unprofessionellen Vorgehensweise“, wie James Wedick meint. Zum Zeitpunkt der Explosionen sei die Marathon-Strecke relativ leer gewesen. „Wenn es professionelle Terroristen gewesen wären, hätten sie gewusst, wann die größte Läufermenge vorbeikommt“ und die Sprengsätze dann gezündet.
Anschläge heimischer Terroristen gibt es immer wieder in den USA. Den größten Horror verursachte ein Attentäter 1995 in Oklahoma, als er über zwei Tonnen Sprengstoff vor einem Bundesgebäude zur Detonation brachte. Der Mann sagte später, er habe einen Hass auf die Regierung. Die Wut kostete 168 Menschen das Leben.
Oder zogen doch islamistische Extremisten die Strippen? Auffallend ist, dass die US-Ermittler das Wort Al-Kaida bisher nicht in den Mund nehmen - zumindest nicht öffentlich. Obama warnt ausdrücklich vor voreiligen Schlüssen.
Die ersten Erkenntnisse der Polizei sind eher mager, Ermittlungen scheinen im Sande zu verlaufen: Zwar durchsuchte das FBI über Stunden eine Wohnung in der Vorstadt Revere, rund fünf Meilen von Boston entfernt. Doch es gab keine Festnahme, keinerlei Erkenntnisse dringen an die Öffentlichkeit. Auch die Meldungen von einem verletzten Mann aus Saudi-Arabien, der in einem Krankenhaus befragt worden sei, führt wohl auf keine heiße Spur.
Hilflos und mit leeren Händen tritt die Polizei am Dienstag vor die Kameras. Sie ruft die Öffentlichkeit auf, Videos und Fotos vom Blutbad der Polizei zu übergeben - alles könnte wichtig sein. Es scheint, als stehe der große Unbekannte hinter dem Verbrechen. Nur eines steht fest: Obama stehen schwere Zeiten bevor.