Analyse: Flüchtlingsinsel Lampedusa vor dem Kollaps
Rom/Lampedusa (dpa) - Die traurig vertrauten Bilder von erschöpften Menschen, denen die Küstenwache im Hafen von Lampedusa von Bord morscher Fischerboote hilft, alarmieren Italien.
Rund 5000 Bootsflüchtlinge aus Tunesien erreichten in den vergangenen vier Tagen über die gefährliche Mittelmeerroute die kleine Insel Lampedusa südlich von Sizilien. Die Afrikaner sind auf der Flucht vor Chaos und Arbeitslosigkeit. Die Insel steht hingegen erneut vor dem Kollaps. Am Sonntag gab die italienische Regierung dem Druck von Hilfsorganisationen und Inselbevölkerung nach und öffnete das Hauptflüchtlingslager auf Lampedusa.
Lampedusa war von der unerwarteten Flüchtlingswelle aus Nordafrika völlig überrollt worden. Einen derartigen Zustrom hatte es schon länger nicht mehr gegeben. Infolge der rigiden und umstrittenen Abschiebepolitik der konservativen Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi waren zwischen Juli 2009 und Juli 2010 gerade mal noch 403 Bootsflüchtlinge auf der Insel eingetroffen. Noch gut in Erinnerung hingegen haben die Insulaner das Vergleichsjahr 2008/2009, in dem rund 20 000 Menschen allein auf Lampedusa strandeten.
Angesichts rückläufiger Zahlen waren die Aufnahmelager vor rund einem Jahr geschlossen worden. Die Regierung hatte sich bisher gesträubt, das zentrale, einst als Erste-Hilfe-Lager konzipierte Aufnahmelager „Contrada d'Imbriacola“ wiederzueröffnen. Das Lager fasst etwa 800 Menschen. Man wolle die Flüchtlinge „nicht zusätzlich ermutigen“, hatte Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord erklärt. Doch angesichts der neuen Welle aus Tunesien gab Rom schließlich nach: Das Zentrum „Contrada d'Imbriacola“ wurde am frühen Sonntagabend wieder geöffnet. Rund 1000 Flüchtlinge wurden dort untergebracht.
Schon am Vortag hatte die Regierung in einer Krisensitzung den humanitären Notstand ausrufen müssen. Die Masse von Flüchtlingen - am Sonntag waren es laut Polizei über 2200 - war bisher trotz Kälte auf der Mole des alten Hafens versammelt worden. Nur die Glücklicheren fanden einen Platz in improvisierten Notunterkünften. Um die Insel zu entlasten, hatten die Behörden die Bootsflüchtlinge so schnell wie möglich per Fähre und Luftbrücke auf Lager in Sizilien und auf dem italienischen Festland verteilt. Doch auch diese waren am Sonntag fast voll. Bei Syrakus auf Sizilien sollte nun ein Zeltlager errichtet werden. Ein Ende des Exodus scheint indes nicht in Sicht, und das nicht ohne Grund.
„Für uns ist es unmöglich geworden, in Tunesien zu leben“, zitierten italienische Medien nach Lampedusa geflohene Frauen. Raubüberfälle und Gewalt seien an der Tagesordnung, niemand wisse, wer das Sagen habe. „Ich habe keine Arbeit und keine Möglichkeit zu überleben“, brachte ein junger Tunesier auf den Punkt, was für viele seiner Leidensgenossen ein Fluchtgrund gewesen sein mag. Denn, wie Experten erläutern: Die Probleme Tunesiens sind mit der Flucht des Diktators Ben Ali nach 24 Jahren Herrschaft bei weitem nicht gelöst. Vielerorts herrscht Chaos, Arbeitslosigkeit und Armut.
Hinzu kommt, dass sich Polizei und Militär, die zuvor die nordafrikanischen Häfen streng überwachten und die Ausreise kontrollierten, in der aktuellen Situation nicht mehr um das Problem kümmern. Innenminister Maroni kritisierte bereits empört, die neue tunesische Regierung halte sich offenbar nicht mehr an das bilaterale Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen.
Was nun? Im Winter 2008/2009 glich Lampedusa zeitweise einem besetzten Felsen. Bis zu 1500 Beamten aus Militär und Polizei waren auf die nur 20 Quadratkilometer große Insel geschickt worden - zur Kontrolle der Flüchtlinge und zum Schutz der Bevölkerung. Steht eine solche Situation wieder bevor? Das politische Erdbeben in Nordafrika könnte via Italien verheerende Auswirkungen auf Europa haben, warnte Maroni.