Analyse: „Grexit“ oder neues Hilfspaket
Brüssel (dpa) - Monatelang wurde verhandelt. Tag und Nacht, in kleinen und großen Runden, auf Gipfeln, bei Ministertreffen, in Hinterzimmern und Expertenzirkeln. Nun naht im griechischen Schuldendrama die Entscheidung.
Die Europartner müssen am Wochenende bei Krisentreffen entscheiden, ob das akut pleitebedrohte Griechenland noch einen Platz in ihrer Mitte hat. Falls die Antwort Nein lautet, dürfte ein „Grexit“ die Folge sein. „Wir sind für alle Szenarien vorbereitet“, lautet die offizielle Ansage ebenso vieldeutig wie lapidar.
Konkret geht es darum, ob das klamme Land ein neues Hilfspaket aus dem Eurorettungsschirm ESM erhält. Die Rede ist von wenigstens 53,5 Milliarden Euro. Athen legte dazu in der Nacht zum Freitag das von den Geldgebern seit langem geforderte Spar- und Reformprogramm vor. Die Zeit drängt. Banken sind seit knapp zwei Wochen geschlossen, der Kapitalverkehr wird kontrolliert. Es droht ein wirtschaftlicher Kollaps.
Das Spar- und Reformpaket ist umfassend. So soll das Rentenalter bis 2022 auf 67 Jahre steigen. Reeder werden mehr besteuert. Erste Reaktionen der Europäer sind verhalten bis vorsichtig optimistisch. Der französische Präsident François Hollande, der unter den europäischen Staats- und Regierungschefs wie kein Zweiter für den Verbleib Griechenlands im Eurogebiet kämpft, lobt die Vorschläge als „seriös und glaubwürdig“.
Die ungeliebte „Troika“, die nicht mehr so heißen darf, weil „Troika“ in Athen zum Reizwort wurde, prüft die Vorschläge. Eingespannt sind also Experten der Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds.
Am Samstag sollen die Euro-Finanzminister entscheiden, ob über ein neues Rettungsprogramm verhandelt werden kann. Dieses könnte schon in der nächsten Woche ausgehandelt werden. Die Herausforderungen sind enorm, denn Griechenland muss im laufenden Monat 4,2 Milliarden Euro zurückzahlen, die es nicht hat.
In Brüssel fragen sich Diplomaten, warum Linkspremier Alexis Tsipras den Umweg über ein Referendum wählte, um dann weitgehend eine Liste der Geldgeber von Juni hinzunehmen.
Die Rechnung sei für die Griechen letztlich noch teurer geworden, denn die wirtschaftliche Lage habe sich mit den Bankenschließungen dramatisch verschlechtert. Experten meinen, das Handeln und die Taktik von Tsipras sei vor allem von der Innenpolitik bestimmt, und den Strömungen in seiner Syriza-Partei.
Am Wochenende werde sich zeigen, ob Tsipras die Kehrtwende noch rechtzeitig gelang. Die seit einem knappen halben Jahr amtierenden Links-Rechts-Regierung verspielte viel Vertrauen in Europa. Ob dieses Vertrauen über Nacht wieder neu aufgebaut werden kann, gilt vielen als fraglich.
Schon beim vorläufig letzten Euro-Gipfel am Dienstag war die Stimmung unter den 19 Staats- und Regierungschefs mehr als gereizt. Das Spitzentreffen vom Wochenbeginn setzte eine Frist von fünf Tagen, um zu einer Griechenland-Entscheidung zu kommen. Die Zeiten sind zwar ernst, sehr ernst sogar, aber unter den „Chefs“ macht sich eine gewisse Griechenland-Müdigkeit breit. Die Dramatik ist beispiellos: Gipfelchef Donald Tusk aus Polen sprach von einem Verfahren der „letzten Chance“.