Analyse: Homosexualität vor Olympia im Fokus
Moskau (dpa) - Das Top-Thema des Tages war der größten russischen Sportzeitung eine Kurzmeldung auf Seite 2 wert. Immerhin. „Das Eingestehen seiner nicht traditionellen Orientierung ist eine ungeheuer kühne Tat von Thomas“, schrieb „Sowjetski Sport“.
Für andere Zeitungen des Riesenreichs war Hitzlsperger in der ersten Ausgabe nach mehrtägigen Neujahrsfeiern kein Thema. Mit seinem überraschenden Coming-out hatte der ehemalige deutsche Fußball-Nationalspieler am Mittwoch weltweit für Schlagzeilen und zumeist positive Reaktionen gesorgt.
In Russland bleibt das Thema Homosexualität negativ belastet - vier Wochen vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi rückte es verstärkt in den Fokus. Die Nachricht von Thomas Hitzlsperger wurde im Internet lebhaft diskutiert, viele Reaktionen waren allerdings beleidigend.
Die Proteste gegen Russlands Anti-Homosexuellen-Politik sind lauter geworden: Stars wie Madonna, Lady Gaga, Elton John oder Schauspieler wie Tilda Swinton und Stephen Fry prangerten das Verbot von „Homosexuellen-Propaganda“ an. Das Gesetz, das seit Juni in Kraft ist, stellt positive Äußerungen zu dem Thema vor Kindern unter Strafe - nicht aber die Hetze gegen Schwule und Lesben.
US-Präsident Barack Obama, sein deutscher Kollege Joachim Gauck und weitere Staatsmänner verzichten demonstrativ auf einen Besuch in Sotschi - dafür kommt King. „Das hat rund zehn Sekunden gedauert“, sagte Tennis-Legende Billie Jean King, dann habe ihre Entscheidung festgestanden, Anfang Februar mit der US-Delegation nach Sotschi zu reisen.
Für viele Russen dürfte das weniger ein symbolischer Akt als eine Provokation sein: Billie Jean King hat ihre Homosexualität längst öffentlich gemacht. Bei der olympischen Eröffnungszeremonie am 7. Februar will die 70-Jährige an der Spitze des US-Teams mit einmarschieren. „Das sendet eine starke Botschaft aus, dass Amerika sehr vielfältig ist“, sagte die zwölfmalige Grand-Slam-Gewinnerin. „Vielleicht werden wir so zu einer Stimme für jene Menschen, die nicht das Gefühl haben, dass sie schon eine eigene Stimme haben.“
Not amused über Billie Jean Kings Visite könnte auch Russlands Stabhochsprung-Halbgöttin Jelena Issinbajewa sein. Aus ihrer negativen Einstellung zum Thema Homosexualität hatte die Olympiasiegerin und Weltmeisterin kein Geheimnis gemacht. Bei der WM im August 2013 in Moskau hatte sie eine Protestaktion schwedischer Leichtathletinnen gegen das russische Anti-Homosexuellen-Gesetz mit drastischen Worten verurteilt.
„Es ist nicht respektvoll gegenüber unserem Land und unseren Menschen“, hatte Issinbajewa nach ihrem dritten WM-Titelgewinn kritisiert. Alles müsse seine Ordnung haben. „Wir hatten diese Probleme in der Geschichte nicht, und wir wollen sie in der Zukunft nicht haben. Bei uns leben Männer mit Frauen, Frauen mit Männern.“
Auspeitschen, lebendig verbrennen oder die Herzen der Toten herausreißen - russische Meinungsmacher überbieten sich seit Monaten mit Vorschlägen im Kampf gegen Homosexualität. Der von Kremlchef Wladimir Putin eingesetzte neue Chef-Ideologe Dmitri Kisseljow schlägt letztere Strafe vor, um gegen die vom Westen begonnene „Verschwulung der Welt“ vorzugehen. Putin selbst spricht zurückhaltender von einem Kampf zwischen „Gut und Böse“ in der Welt. Der Schauspieler Iwan Ochlobystin plädierte aber zuletzt ausdrücklich für das Verbrennen im Ofen - bei „lebendigem Leib“.
Warum Homosexualität, die in Russland weiterhin straffrei ist, überhaupt mit Gesetzen bekämpft werden soll, können sich viele einfache Menschen auf der Straße kaum erklären. Sie haben eigentlich ganz andere Sorgen: Armut und Arbeitslosigkeit.