Analyse: Im Baltikum herrscht Angst vor Destabilisierung
Tallinn (dpa) - Vom Besuch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama diese Woche in Estland und dem Nato-Gipfel in Wales versprechen sich die baltischen Staaten mehr Solidarität, Sicherheit und auch ein klares Signal an Moskau.
Denn Russlands Vorgehen in der Ukraine hat in Estland, Lettland und Litauen die Sorgen vor einem Rückfall in alte Sowjetzeiten wieder aufleben lassen. Befürchtet wird, dass der Kreml ähnlich wie auf der Krim als Schutzmacht der dort lebenden ethnischen Russen auftreten könnte. Innere Konflikte gibt es bereits.
Zwar sind Estland, Lettland und Litauen seit 2004 in EU und Nato. Aber allzu lange liegt die Zeit als Sowjetrepubliken eben doch nicht zurück. Erst am vergangenen Wochenende wurde in Tallinn und Riga des 20. Jahrestages des Endes der sowjetisch-russischen Militärpräsenz gedacht. Unverändert hoch ist weiterhin die Abhängigkeit von russischem Gas, im Finanzsektor sind viele russische Akteure präsent.
Bis heute besteht die Bevölkerung in Estland und Lettland zu gut einem Viertel aus ethnischen Russen. In Städten wie Narva (Estland) oder Daugavpils (Lettland) stellen sie sogar die Mehrheit. Im Gegensatz dazu ist die Minderheit in Litauen deutlich kleiner. Doch das Argument, die eigenen Landsleute im Ausland schützen zu müssen, könnte Moskau auch hier als Vorwand für ein Eingreifen dienen.
Wiederholt hat der Kreml die angebliche Diskriminierung der russischstämmigen Bevölkerung im Baltikum kritisiert. Ohnehin tief gespalten ist man in der Sprachenfrage. Ein weiterer Hebel könnte die soziale Unzufriedenheit der russischsprachigen Bevölkerung sein, die sich oft als Bürger zweiter Klasse fühlt.
Regelmäßig konstatieren die baltischen Sicherheitsbehörden, dass Russland systematisch versuche, die öffentliche Meinung und innenpolitische Prozesse in den kleinen Nachbarstaaten zu beeinflussen. Ebenso wurde den von der Minderheit stark konsumierten russischen Medien wiederholt Propaganda vorgeworfen.
Auch in der Ukraine-Krise versuchen kremltreue Kreise den Gang der politischen Dinge im Sinne Moskaus zu lenken. Pro-russische Aktivisten und Parteien wie die auch im EU-Parlament vertretene Russische Union Lettlands veranstalteten bereits Kundgebungen. Der Verein Baltikum für Neurussland ruft zur Unterstützung der Separatisten in der Ukraine auf. Und offiziell bestätigte Medienberichte zeigen, dass Nationalbolschewiken aus dem Baltikum in der Ukraine an der Seite der Aufständischen kämpfen.
Dennoch geht Estlands russischstämmiger Bildungsminister Jevgeni Ossinovski nicht davon aus, dass die baltischen Russen unter Moskaus Obhut streben. Niemand wolle die Abspaltung, sagte er im Frühjahr in einem „Spiegel“-Interview. Auch Katri Raik, Leiterin des Narva College der Universität Tartu, hält ein Krim-Szenario für unrealistisch. „Wollen die Menschen in Estland oder Putins Russland leben? Jeder mit gesundem Menschenverstand - und glauben Sie mir, hier leben normale Menschen - will in Estland leben. Weil das Leben hier besser ist, stabiler, die Renten sind höher, es gibt Sozialhilfe“, schreibt sie in der Zeitung „Eesti Päevaleht“.
In der Tat zeigten die Minderheiten bisher kaum Interesse an „Schutz“ oder gar „Befreiung“ durch Russland. Im Gegenteil: In Estland unterzeichneten fast 800 russischstämmige Bürger einen offenen Brief, in dem sie die Souveränität Estlands unterstützen und eine Einmischung Dritter in innere estnische Angelegenheiten verurteilen.
Auch in Lettland bezeichneten sich in einer Umfrage 64 Prozent der ethnischen Nicht-Letten als lettische Patrioten. Im Ukraine-Konflikt ist die Haltung der Mehrheit neutral. Eine Mehrheit lehnt die Präsenz bewaffneter russischer Kräfte in der Ukraine ab.
Dennoch wollen die baltischen Präsidenten bei ihrem Treffen mit Obama nachdrücklich auf ihre Sicherheitsängste hinweisen. Der US-Präsident scheint darauf vorbereitet. „In Estland werde ich unsere unerschütterliche Verpflichtung für die Verteidigung unserer Nato-Verbündeten bekräftigen“, kündigte er vor seiner Reise an.