Analyse: Leben auf dem Pulverfass
Kumamoto (dpa) - Die Nacht wird zum Alptraum. Die meisten Menschen auf Japans südwestlicher Hauptinsel Kyushu schlafen, als sich unter der Provinz Kumamoto am Samstag gegen 01.25 Uhr Ortszeit die Erde plötzlich mit enormer Wucht aufbäumt.
Das hatte sie knapp zwei Tage zuvor schon mit weniger Wucht getan und neun Menschen in den Tod gerissen. Nun wird klar: Dies war nur der Vorbote noch größeren Unheils.
Mit 7,3 wird die Stärke des Bebens in nur zehn Kilometern Tiefe später angegeben. Hunderte Häuser stürzen ein, Berghänge rutschen ab, Dutzende meist alte Menschen werden in ihren Häusern von Trümmern oder umstürzenden Möbeln erschlagen. Die dramatischen Bilder der Zerstörung auf Kyushu wecken weltweit die Erinnerung an die Katastrophe vor fünf Jahren. Kommt es zu einem zweiten Fukushima?, fragt sich so mancher.
Ein solcher Schlag bleibt Japan und der Welt erspart. Zwar stehen auch auf Kyushu Atomkraftwerke, sie bleiben nach Betreiberangaben aber unbeschädigt. Anders als 2011 im Nordosten des Landes lösen die von Hunderten Nachbeben gefolgten Erdstöße dieses Mal auch keinen Tsunami aus. Für die Menschen auf Kyushu allerdings ist das kaum ein Trost.
Vor einem eingestürzten Studentenwohnheim im Dorf Minamiaso stehen junge Japaner und weinen. Drei ihrer Kommilitonen sind tot. „Ich war eingeklemmt und habe immer wieder um Hilfe gerufen“, erzählt eine 22-jährige Überlebende der Zeitung „Tokyo Shimbun“. „Irgendwann hörte ich eine Stimme, die sagte, ich solle gegen die Wand schlagen.“ Retter konnten sie orten und bergen. Auch viele andere wurden rechtzeitig aus den Trümmern befreit.
Heftige Regenfälle in der Nacht erschweren die Bergungsarbeiten und die Suche nach weiteren Überlebenden. Derweil mühen sich Einsatzkräfte aus Militär, Polizei und Feuerwehr, die Überlebenden mit Lebensmitteln und Trinkwasser zu versorgen. Und wieder, wie stets bei Katastrophen, zeigt sich eine der Stärken Japans: der Zusammenhalt seiner Menschen. Auch in größter Not bewahren die Japaner Fassung. Dabei ist die Versorgung zunächst schwierig, es mangelt stellenweise an genug Lebensmitteln und Trinkwasser.
Zehntausende harren in Notunterkünften aus. Teilweise ist der Andrang so groß, dass manche die Nacht im Regen draußen unter Vordächern verbringen müssen. In einer Schule im schwer betroffenen Kumamoto, wo rund 1500 Menschen untergebracht sind, ergreifen Schüler die Initiative und tragen Eimer mit Wasser aus dem Schwimmbecken, um damit die Toiletten zu spülen.
„Wir haben zu wenig Trinkwasser. Das brauchen wir wirklich dringend“, schildert die Oberschülerin Erina Senba im Fernsehen. Mit Kreide haben sie auf dem Sportplatz groß die Worte „Bitte Trinkwasser“ gemalt, damit Rettungshubschrauber sie sehen können.
Was gelegentlich im Westen als Gleichmut missverstanden wird, ist in Wahrheit Gefasstheit und Durchhaltewillen, mit der die Japaner Katastrophen wie dieser begegnen. Die Erkenntnis, dass sich - abgesehen von Auswanderung - nichts tun lässt, als sich mit der Tatsache abzufinden, auf einem Pulverfass zu leben, hat bei den Inselbewohnern zu außergewöhnlicher Ausdauer in Krisen geführt.
In einem Land wie Japan, das so rasant altert wie keine andere Industrienation, sind es dabei gerade Ältere, die es besonders hart trifft: Die meisten der Getöteten waren über 60 Jahre alt.