Analyse: Piraten wollen Profis sein
Neumünster (dpa) - Die Mitte Deutschlands ist es nicht, der Nabel der Welt schon gar nicht. Vielleicht fanden auch deshalb nicht ganz so viele Piraten ihren Weg nach Neumünster in Holstein zum Bundesparteitag, wie die Organisatoren gehofft hatten.
1500 etwa waren es am Samstag. Zuvor war von 2000, vielleicht 2500 die Rede gewesen. Eine beeindruckende Zahl ist es dennoch, der bisherige Parteivize Bernd Schlömer zieht gar einen Vergleich mit dem chinesischen Volkskongress. Die Piratenpartei Deutschland ist auf dem Weg in die Zukunft, mit viel Rückenwind aus Wahlen und Umfragen.
Besonders bunt kommt die junge Truppe nicht daher, eher in dunklen Farben, Freizeitkleidung, und längst nicht immer über den Laptop gebeugt, wie ihnen nachgesagt wird. Fast exotisch nur die scheidende Geschäftsführerin Marina Weisband, im bodenlangen Kleid, Blume im Haar. „Einen geilen Vorstand“ wünscht sie sich - selbst will sie aber nicht dabei sein. „Gegen Oktober ist mir das ganze um die Ohren geflogen“, gesteht sie in ihrem Tätigkeitsbericht. „Ich habe nicht alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe.“
Viele hatten sich gefragt, wie die unerfahrene Partei diesen wuseligen Riesenkongress wohl bewältigen würde. Aber am ersten Tag war schnell klar: mit erstaunlicher Professionalität - und hin und wieder durchaus autoritärem Ton. „Das ist hier kein Kaffeekränzchen“, ruft Philipp Brechler vom Organisationskomitee in den Saal, als es mal wieder ziemlich laut wird: rote Locken, rote Backen, korpulent und sehr bestimmend. Als dann der alte Vorstand entlastet wird, springen die Mitglieder von ihren Sitzen, jubeln und feiern sich selbst - die strengen Regeln für einen Augenblick vergessend.
Auf ihrem zehnten Parteitag haben die Piraten schon einige Übung in Disziplin. Vor eineinhalb Jahren gab es in Chemnitz noch heftige Turbulenzen: Persönliche Querelen und immer neue Anträge zur Verfahrensordnung prägten den ersten Tag des Programmparteitags. Sogar zu Tätlichkeiten kam es damals - ein Parteimitglied wurde von der Versammlung ausgeschlossen, weil er einem anderen das Bändchen für die Zulassung zum Parteitag vom Arm gerissen hatte.
Das gehört zur Vergangenheit der schnell lernenden Partei. In Neumünster darf jeder reden und Anträge stellen. Aber Versammlungsleiter Jan Leutert hat die Sache fest im Griff. Die Redezeit wird auf eine Minute begrenzt. „Basisdemokratie heißt, dass jeder seine Meinung äußern kann“, sagt Leutert. „Aber das kann auch in kompakter Weise geschehen.“
Intensiv diskutiert werden Anträge zur Änderung der Parteisatzung, die aus Sicht mancher Mitglieder Gefahren bergen: „Wir treten doch an, weil wir es anders machen wollen als die etablierten Parteien“, kritisiert ein Redner den Antrag zur Verlängerung der Amtszeit von Vorstandsmitgliedern auf zwei Jahre. Der Antrag findet nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Angenommen wird aber eine Vergrößerung des Bundesvorstands von sieben auf neun Mitglieder. Künftig wird es zwei Stellvertretende Vorsitzende und drei statt bisher zwei Beisitzer geben.
Basisdemokratie funktioniert also. „Die Frage ist nur, was machen die Piraten, wenn sie diese Phase hinter sich haben“, sagt der Hamburger Parteienforscher Joachim Raschke, der den Aufstieg der Grünen seit den frühen 80er Jahren wissenschaftlich begleitet hat. Er ist an diesem Samstag als Gast nach Neumünster gekommen, um sich ein Bild zu machen von der Partei, die sich aufgemacht hat, die deutsche Politik aufzumischen. „Sehr formalistisch und administrativ“ findet er die Versammlung - zumindest am ersten Tag. „Der politische Gehalt ist nicht so leicht erkennbar.“
Vieles ist (noch) anders als bei den anderen Parteien. Etwa 100 Mitglieder nächtigten auf Luftmatratzen und Isomatten in einer angrenzenden Halle. Beistand gab es auch für die, denen das zu laut war: am Eingang eine Box mit gelben Ohrstöpseln. „Der Bezirksverband Bayern wünscht eine gute Nacht“, steht auf dem Gefäß.