Analyse: Trotz „planetarer Katastrophe“ Ja zur Atomkraft
Kiew/Moskau (dpa) - Von einer atomaren Tragödie „planetaren Ausmaßes“ sprechen die Redner in Tschernobyl bei den Gedenkfeiern am 25. Jahrestag des Super-GAUs.
In der atomaren Sperrzone unter freiem Himmel in der Nähe des explodierten Reaktors finden der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und Kremlchef Dmitri Medwedew bewegende Worte. Sie äußern Beileid für die tausenden Todesopfer und Dankbarkeit für die Helfer von damals.
Doch trotz vieler Blumen, Kerzen und ergreifender Gebete und den vielen Parallelen zu den Reaktorunglücken in Japan geht von diesem Gedenktag in der Ukraine doch ein klares Bekenntnis für die Atomkraft aus.
Sauber und günstig sei sie, die Kernenergie, sagt der russische Präsident Medwedew. Reaktoren moderner Bauart funktionierten heute weltweit erfolgreich. Wichtig seien daher vor dem Hintergrund der Katastrophe in Japan höhere Sicherheitsstandards, betont Medwedew. Mitten in der weltweiten Diskussion strebt sein Land eine führende Position an bei der Lieferung schlüsselfertiger Atomkraftwerke.
Und auch die schwer von der Tschernobyl-Katastrophe gezeichnete Ukraine investiert weiter in Kernenergie. Bis 2030 soll sich die Zahl der bisher 15 Reaktoren verdreifachen. Janukowitsch weiß, dass das Erbe der sowjetischen Tragödie schwer auf seinem Land lastet. Zu Hunderten nehmen an diesem Gedenktag auch „Liquidatoren“ teil, die damals mit bloßen Händen im Unglücksreaktor 4 aufräumen mussten. Viele von ihnen sehen trotz schwerer Strahlenschäden und lebensgefährlicher Krankheiten keine Alternative zur Atomkraft.
Zu den Befürwortern gehört bis heute der ehemalige Tschernobyl-Kraftwerksdirektor Michail Umanez. Die rohstoffarme Ex-Sowjetrepublik müsse mangels anderer Energiequellen auf die Atomkraft setzen. „Natürlich müssen die Kernanlagen aber sicher sein“, sagt der 73-Jährige. Der damals nach der Explosion Berufene setzt sich heute vor allem dafür ein, dass der Unglücksreaktor dauerhaft durch einen neuen Sarkophag abgedichtet wird.
Die Umweltorganisation Greenpeace dringt noch in der Nacht des Jahrestags in die Sperrzone ein. „Stoppt den atomaren Wahnsinn“, fordert die Handvoll Aktivisten, während Lichtstrahler einen Totenkopf und Radioaktivitätszeichen auf den Reaktor projizieren. Der Greenpeace-Mitarbeiter Tobias Münchmeyer erinnert daran, dass von dem Ort unschätzbares Leid ausgegangen ist und die tödliche unsichtbare Strahlengefahr andauere.
Doch eine Anti-Atomkraftbewegung wie etwa in Deutschland ist in der Ukraine, in Russland oder anderen Staaten der früheren Sowjetunion nicht in Sicht. Gleichwohl sehen Soziologen angesichts der Katastrophe in Japan ein wachsendes Bewusstsein für die Gefahren der Kernenergie. Nach einer Umfrage des Moskauer Instituts Wziom sehen inzwischen 59 Prozent der Russen in den Kernreaktoren eine Bedrohung für die Umwelt. Vor fünf Jahren habe der Wert nur 31 Prozent betragen.
Immerhin schließt inzwischen auch der russische Kraftwerkbauer Rosatom nicht aus, alte Reaktoren vom Netz zu nehmen. Seinen Kunden - dazu gehören auch China, Indien und der Iran - verspricht Russland höchste Sicherheitsstandards. Zudem versüßt Moskau etwa seinem Nachbarn Weißrussland den Einstieg in die Atomkraft mit einem Milliardenkredit. Dabei leben gerade dort in der Nähe des ukrainischen Tschernobyl-Reaktors immer noch mehr als eine Million Weißrussen in radioaktiv verseuchten Gebieten.
Viele Menschen nehmen mit der Milch, Fleisch und wilden Pilzen weiter massenhaft das Strahlengift Cäsium-137 auf. Der autoritäre Staatschef Alexander Lukaschenko wischt die Ängste zum Jahrestag vom Tisch. Er bekräftigt seinen Entschluss, an der Grenze zu den EU-Staaten Polen und Litauen in Ostrowez im Gebiet Grodno den ersten Reaktor bis 2017/18 bauen zu lassen. Eine traditionell zum Tschernobyl-Jahrestag organisierte Gedenkveranstaltung von Atomkraftgegnern hatten die Behörden in diesem Jahr aber verboten.