Analyse: Warum wieder Sachsen?
Dresden (dpa) - Ein Spruch von Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) wird in diesen Tagen besonders gern zitiert. Die Sachsen seien „immun“ gegen rechtsextremistische Tendenzen, befand Biedenkopf im Jahr 2000 - und stellte seinen Landeskindern eine Art politischen Persilschein aus.
Der damalige Regierungschef bleibt bis heute bei dieser Grundaussage, auch wenn er inzwischen aus „den Sachsen“ die „Mehrheit der Sachsen“ macht.
Dennoch stellt sich nach den jüngsten ausländerfeindlichen Vorkommnissen in Clausnitz und Bautzen bundesweit die Frage: Warum Sachsen? Im Internet und diversen TV-Sendungen blüht das Sachsen-Bashing. Fremdenfeindliche Parolen klingen in keinem Dialekt schön. Doch wenn sie in sächsischer Mundart von einer Menge gegrölt werden, wirken sie besonders dumpf und fast wie Satire - auch wenn es bitterer Ernst ist.
Experten sehen ein Bündel von Ursachen, warum gerade die Sachsen Ressentiments gegen das Fremde pflegen. Sie greifen dabei tief in die Geschichte des früheren Kurfürstentums zurück - bis hin zu August dem Starken (1670-1733), obwohl der alles andere als fremdenfeindlich war. August ließ italienische Baumeister und Musiker nach Sachsen kommen, um den hiesigen Künsten auf die Beine zu helfen und sammelte Kunst und Trophäen aus aller Welt.
Der Chemnitzer Extremismusforscher Tom Thieme meint, dass die Sachsen eine historische Prägung mit einem gewissen Maß an Überhöhung besitzen: „Sie glauben, besser zu sein als andere.“ Er spricht vom subjektiven und objektiven Verliererbewusstsein. Obwohl man besser als andere im Osten dasteht, fühlt man sich auch 2016 noch immer vom Westen gedemütigt. Rationale Gründe müsse es für ein solches Bewusstsein nicht geben, sagt der Politikwissenschaftler.
„Sachsen ist wirklich seit einiger Zeit außer Kontrolle“, meint der Berliner Rechtsextremismusforscher Hajo Funke. „Es ist vor allem ein Versagen der Polizei - und ein Versagen der politischen Führung, des Ministerpräsidenten und des Innenministers“, sagt er im RBB.
Der Bautzener CDU-Landtagsabgeordnete Marko Schiemann sieht auch sozio-ökonomische Ursachen dafür, warum in Sachsen derart viele Menschen anfällig für rechte Parolen sind. Dass Sachsen von seiner Partei und dem früheren Koalitionspartner FDP als Billiglohnland gepriesen wurde, sei im Rückblick ein großer Fehler: „Es hat viele der besten Leute aus dem Land getrieben“, meint Schiemann.
Die Folge: In der Provinz sind oft die geblieben, die anderswo keine Chancen hatten und Neuankömmlinge wie die Flüchtlinge nun als Bedrohung wahrnehmen. Schiemann verweist auf die Bevölkerungswicklung in Ostsachsen seit 1991. Rund ein Viertel der Einwohner seien inzwischen weg, oft junge und gut ausgebildete Frauen. Noch immer pendelten Tausende Ostsachsen jede Woche zur Arbeit in den Westen.
„Die Belastungen der letzten 25 Jahren waren für viele Familien brutal. Im Westen ist das weitgehend unbekannt“, sagt Schiemann. Eine Legitimation für Fremdenhass sei das aber nicht. Nachdem in seiner Stadt Bautzen in der Nacht zum Sonntag eine geplante Flüchtlingsunterkunft brannte, hat der CDU-Politiker schlaflose Stunden erlebt: „Ich habe die Sorge, dass uns der demokratische Staat aus dem Ruder läuft.“
Vor zehn Jahren hat Schiemann einen Arbeitskreis der CDU geleitet, der sich mit Strategien gegen die rechtsextreme NPD befasste. Sie war 2004 in Sachsen erstmals seit den 1960er Jahren wieder in ein deutsches Länderparlament eingezogen. Sein Abschlussbericht liest sich wie ein Drehbuch für eine drohende Radikalisierung. Da ist von sozialer Isolierung, Perspektivlosigkeit und materieller Unsicherheit die Rede, von Zukunftsängsten und enttäuschten Bürgern.
Nach den neuerlichen Hasstiraden in Clausnitz, wo ein Mob die Ankunft von Flüchtlingen blockierte, und dem Brandanschlag auf eine geplante Asylunterkunft in Bautzen, sieht sich die CDU unter Erklärungsdruck. Ihr wird vorgeworfen, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus viel zu lange verharmlost zu haben. „Der Fisch stinkt in Sachsen vom Kopf her“, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir. Die Union müsse sich endlich unmissverständlich von rechtspopulistischer und fremdenfeindlicher Rhetorik abgrenzen, fordert die Opposition im Freistaat.