Das neue Libyen: Eintracht oder Zwietracht?
Istanbul (dpa) - Die politischen Führer der Aufständischen in Libyen sitzen auf gepackten Koffern. Während in der Hauptstadt noch gekämpft wird, hat der nationale Übergangrat der Rebellen angekündigt, jetzt zumindest teilweise mit dem Umzug von Bengasi nach Tripolis zu beginnen.
Sie wollen ihre Bewegung, die bisher nur den Sturz von Muammar al-Gaddafi als gemeinsames Ziel kannte, vor einem Auseinanderbrechen und möglichen blutigen Flügelkämpfen bewahren.
Dass es dabei keinerlei festgelegte Spielregeln gibt, macht die Sache zusätzlich kompliziert. Libyen ist reich an Öl, hat aber keine Verfassung, nur das „Grüne Buch“, in dem Diktator Muammar al-Gaddafi seinen nun gescheiterten Staat der Massen entworfen hatte. Die Situation sei wie gemacht, um die künftige Machtverteilung notfalls auf der Straße auszukämpfen, fürchten westliche Diplomaten.
Gegen dieses Schreckensszenario steht die Vision eines wohlhabenden, demokratischen Rechtsstaates, der aus dem Öleinnahmen aufgebaut werden könnte. „Einen Entwurf für eine Verfassung gibt es bereits. Darüber wird eine Volksabstimmung entscheiden“, sagt Abdul al-Kasim Ali, ein Berater von Mustafa Abdul Dschalil, dem Vorsitzenden des Übergangrates. „Zunächst aber sollen Komitees für Sicherheit und Frieden sorgen. Wir haben einen Plan“, sagt er am Mittwoch in einem Telefoninterview.
Doch vier Jahrzehnte Herrschaft ohne echte Institutionen und der sechs Monate lange Krieg sind ein schweres Erbe. Der gemeinsame Kampf einte die Rebellenbewegung. Doch nun können Auseinandersetzungen zwischen Stammesgruppen, den Gruppen der Rebellen, zwischen säkularen und islamistischen Kräften, zwischen Revolutionären und Mitläufern sowie zwischen der Exil-Gemeinde und den unter Gaddafi im Land Gebliebenen das Land in ein Pulverfass verwandeln.
Vereinzelt soll es schon Schießereien unter Rebellen gegeben haben. Ungeklärt sind weiterhin die Umstände des Mordes an dem Militärchef der Rebellenarmee und früheren Gaddafi-Gefolgsmann Abdulfattah Junis im Juli.
Als ersten wichtigen Schritt zur Stabilisierung betrachtet der Übergangsrat die rasche Freigabe der international eingefrorenen libyschen Staatsgelder. Mit diesen Milliardenbeträgen sollen schnelle Erfolge beim Aufbau des Landes möglich werden. Darüber soll an diesem Donnerstag auch bei einem Treffen der Libyen-Kontaktgruppe in Istanbul gesprochen werden. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu reiste am Dienstag bereits mit Koffern voller Bargeld nach Bengasi, damit der Übergangsrat in diesem „historischen Moment“ flüssig ist. Mit dem Geld wurden auch Gehälter gezahlt.
Die US-Regierung hat angekündigt, noch in dieser Woche eine Milliarde US-Dollar freigeben zu wollen. „Das ist nur ein Teilbetrag“, sagte die Sprecher des US-Außenministeriums, Victoria Nuland. „Unserer Beurteilung nach ist das die richtige Summe, um den dringendsten Bedarf humanitärer Aufgaben und der Regierung zu decken.“ Der Übergangsrat habe zugesagt, die Verwendung des Geldes transparent zu belegen.
In Tripolis riefen die Rebellen die Bevölkerung auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Einwohner der Stadt sagten am Mittwoch, dies sei ein Hoffnungszeichen. Positives Beispiel sei die Rebellenhochburg Bengasi, in der nach der Vertreibung des Regimes erstaunlich schnell eine Situation relativer Ruhe eingetreten war.