Die Angst vor der ungewollten Scheidung

Brüssel (dpa) - Jean-Claude Juncker dürfte sich spätestens im Sommer 2014 darüber im Klaren gewesen sein, dass der „Fall Großbritannien“ eine seiner größten Bewährungsproben wird. Englische Medien fuhren damals eine fast schon hasserfüllte Kampagne gegen seine Wahl zum EU-Kommissionspräsidenten.

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„Sechs Gründe, warum das der gefährlichste Mann Europas ist“, titelte die auflagenstärkste britische Tageszeitung „The Sun“. Dass der erfahrene Politiker „nie einen richtigen Job“ hatte, klang dabei fast noch freundlich. Unverfroren wurde Juncker in Artikeln als größenwahnsinniger Lügner mit Neigung zum Alkohol dargestellt - als jemand, der die EU über alles stellt und die Nationalstaaten zur Bedeutungslosigkeit verdammen will.

Nicht einmal Vorwürfe, seine Familie habe Nazi-Verbindungen, blieben dem früheren Luxemburger Premier erspart. Doch die schmutzige Kampagne verhinderte Junckers Wahl nicht. Auch gegen den Willen der britischen Regierung von David Cameron wurde der heute 61-Jährige Chef der mächtigen EU-Kommission.

Cameron hatte vielleicht schon damals im Gefühl, dass seine Referendumspläne noch risikoreicher sind, wenn ein Vollbluteuropäer wie Juncker in Brüssel den Ton angibt. Doch 2014 konnte oder wollte außerhalb Großbritanniens offensichtlich niemand darüber nachdenken, dass die Nominierung Junckers zum Kommissionspräsidenten das Risiko eines britischen EU-Austritts womöglich vergrößern könnte.

Cameron stand ohne einflussreiche Unterstützer da. Er hatte seinen EU-skeptischen Landsleuten die Abstimmung über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Union 2013 versprochen, um seine Chancen auf eine Wiederwahl zu erhöhen. Das werde er nun selbst ausbaden müssen, lautete die Ansicht vieler, für die ein Brexit nicht vorstellbar schien.

Heute zeigen alle Umfragen, dass der Brexit alles andere als unvorstellbar ist. Allen Beteiligten bleibt nichts übrig, als aus der schwierigen Lage das Beste zu machen. Weil Juncker um die Bedeutung Großbritanniens für die EU weiß, stand er in den vergangenen Monaten trotz aller Kränkungen hinter Cameron und den Austrittsgegnern.

Mit der Kommission unterstützte er die Verhandlungen über neue Sonderrechte für das Königreich, die nur dann gültig werden, wenn die Briten für den Verbleib in der EU stimmen. Und immer wieder versucht er, in Interviews und Reden Austrittsbefürworter davon zu überzeugen, dass ihr Brexit-Kurs gefährlich und falsch ist.

„Deserteure werden nicht mit offenen Armen empfangen“, warnte er jüngst in der bei Briten beliebten Kriegsrhetorik. Auf Wahlkampfauftritte im Königreich wird allerdings verzichtet. Dort sei die EU-Kommission schließlich „noch unbeliebter“ als in Deutschland, erklärt Juncker mit Galgenhumor.

Für Juncker könnte der 23. Juni ein Schicksalstag werden. Sollten die Briten für einen Austritt aus der EU stimmen, stellen sich auch für den Luxemburger heikle Fragen. Hätte ein in Großbritannien beliebterer EU-Kommissionspräsident vielleicht im positiven Sinne Zünglein an der Waage sein können? Hat sich Brüssel im Wahlkampf nicht vielleicht doch zu sehr zurückgehalten?

Darüber, wie es mit der EU nach einem Austritt Großbritanniens weitergehen würde, kann nur spekuliert werden. Optimisten hoffen darauf, dass ein Brexit für die EU zur Chance werden könnte. Zukunftsprojekte wie eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion oder eine europäische Armee dürften sich ohne die stets bremsenden Briten eventuell leichter verwirklichen lassen. Pessimisten sehen hingegen die Gefahr einer existenziellen Krise der EU. Was, wenn andere Länder Großbritannien folgen?, lautet die bange Frage.

„Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein“, malt EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem „Bild“-Interview Horrorszenarien an die Wand. „Politisch würde ein Austritt alle radikalen Anti-Europäer in den EU-Staaten anfeuern.“

Gleichzeitig prognostiziert er eine lange und komplizierte Scheidungsphase. Allein das Auflösen aller vertraglichen Verpflichtungen und Verbindungen könnte demnach rund zwei Jahre dauern. Danach müssten die verbleibenden 27 EU-Staaten sowie das EU-Parlament den Vertrag über die neuen Beziehungen zum Königreich billigen.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnt die Briten deswegen vor allzu großen Hoffnungen auf einen guten Deal. Nach den Worten des SPD-Politikers kann der führende Austrittsbefürworter Boris Johnson nicht darauf spekulieren, „eine möglichst gute Vereinbarung mit den EU-Partnern herauszuhandeln“. „Wer geht, geht“, sagte Schulz dem „Tagesspiegel“.

Die Briten wären im Fall des Austritts darauf angewiesen, den Zugang zum europäischen Binnenmarkt und die künftigen Beziehungen zur EU zu verhandeln. Dabei könnten einige Staaten versucht sein, die Kosten des Austritts für Großbritannien ungemütlich hoch zu treiben.

Ärger droht aber auch, wenn die Briten gegen einen EU-Austritt stimmen. Die Sonderrechte, die dem Königreich im Fall des Verbleibs in der EU eingeräumt werden, könnten andere EU-Staaten in die Versuchung bringen, über Austrittsdrohungen nationalstaatliche Interessen durchzudrücken. Auch ein solches Szenario dürfte für Vollbluteuropäer wie Jean-Claude Juncker eine Horrorvorstellung sein.