Chance zum Neubeginn Ein Jahr Diesel-Skandal bei Volkswagen
Wolfsburg/Berlin (dpa) - Es war ein tiefer Fall für Volkswagen. Und er kam - jedenfalls für Hunderttausende Beschäftigte von Deutschlands größtem Konzern - weltweit wie ein Donnerschlag aus dem Nichts.
„Dieselgate“. Wenige Wochen im Herbst 2015 reichen, um aus einem erfolgsverwöhnten, vor Kraft strotzenden Autobauer ein weitgehend verunsichertes Unternehmen zu machen. Die Abgaskrise rüttelt am Selbstvertrauen und Selbstverständnis der Industrie-Ikone VW. Die Affäre um Millionen manipulierte Motoren ruft enttäuschte Kunden und Aktionäre ebenso auf den Plan wie zwischen Unverständnis und Wut schwankende Mitarbeiter, besorgte Verbraucherschützer und eifrige Staatsanwälte. Sie stürzt Manager, beschäftigt Scharen von Juristen, kostet Milliarden und stellt eine ganze Branche unter Verdacht.
Ein Jahr nach dem Bekanntwerden des Skandals ist aber auch klar: Der Wolfsburger Autoriese muss und will das alles zugleich als Chance zum Neubeginn nutzen - und das Erbe des Diesel-Debakels in eine Zeit der Ökoantriebe, Dienstleistungen und schlankeren Strukturen überführen.
Am 19. September 2015 sieht es noch so aus, als könne Volkswagen kein Wässerchen trüben. Tags zuvor hatten Umweltbehörden in den fernen USA zwar mitgeteilt, dass es bei Abgasmessungen von VW-Modellen nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Pressestelle aber tritt an jenem Samstag erst mal neuerlichen Gerüchten entgegen, der Konzern treibe einen Einstieg in die Formel 1 voran. Das seien bloß „Spekulationen“.
Dabei hätte die Königsklasse des Motorsports damals wie ein Sinnbild gepasst. VW scheint auf dem Zenit. Die Gewinnmaschine läuft rasant. Kaum eine Firma investiert so gewaltig, schafft so viele Jobs.
Nur einen Tag später - am 20. September - endet die Rekordfahrt im größten Crash der rund 80-jährigen Konzerngeschichte. Die Wolfsburger müssen öffentlich „Manipulationen“ an ihren Dieselmotoren einräumen.
Dann geht es Schlag auf Schlag. Milliarden werden zurückgestellt, am 23. September fegt der Skandal Vorstandschef Martin Winterkorn aus dem Amt. Für VW-Verhältnisse der Ausnahmezustand. Und der herrscht auch heute noch, wenn sich Ende September die Affäre erstmals jährt.
Die bisherige Bilanz ist katastrophal. Der einst so stolze Autobauer ist in den Grundfesten erschüttert, wichtige Zulieferer bangen, der Diesel scheint zumindest außerhalb Europas keine Zukunft zu haben. Rückrufe von Millionen Wagen bei VW, Audi, Skoda und Seat mit älteren Antrieben laufen nur schleppend an. Mit minus 1,6 Milliarden Euro steht 2015 für den größten Verlust in der VW-Geschichte. Zweistellige Milliardensummen dürfte die Krise am Ende kosten, Genaues ist unklar.
Analysten halten bis zu 35 Milliarden Euro für realistisch. Das wäre ein Mehrfaches der jüngsten Jahresgewinne. Dieses Geld fehlt nun an entscheidenden Stellen. Für Herausforderungen muss sich VW mehr denn je rüsten - etwa E-Mobilität und Digitalisierung, mit denen das reine Autobauen in den Hintergrund tritt und Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen. Mit dabei als neue Rivalen: Giganten wie Google oder Apple.
Und der Konzern? Sucht erst mal nach sich selbst. Die Kläger in den USA, wo der Skandal um elf Millionen frisierte Abgassysteme aufflog, kreiden ihm „eines der unverschämtesten Unternehmensverbrechen der Geschichte“ an. „Volkswagen hat sich seinen Weg an die Spitze der automobilen Nahrungskette herbeibetrogen und verschonte dabei kein Opfer - sei es auf Kosten seiner Kunden, der US- und anderer Behörden und sogar eben jener Luft, die wir atmen“, heißt es in einer Klage.
Viele der gut 610 000 Mitarbeiter im VW-Reich lässt das nicht kalt. „Na klar sind die Leute traurig, die haben echt die Nase voll“, fasst Betriebsratschef Bernd Osterloh die derzeitige Gemütslage der Belegschaft zusammen. „Den Leuten fällt es irgendwann ein Stück weit schwer, nur Negatives über das Unternehmen in der Zeitung zu lesen.“ Die Schuldfrage ist derweil auch zum ersten Jahrestag noch ungeklärt.
Winterkorn sprach vor seinem Rücktritt von „Fehlern einiger Weniger“. In einer Klageerwiderung sprechen Juristen des Autobauers im Frühling von „VW-Mitarbeitern unterhalb der Vorstandsebene auf nachgeordneten Arbeitsebenen des Bereichs Aggregate-Entwicklung“. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ist man heute nicht viel weiter. Eine Gruppe sei eingegrenzt, die Entscheidungswege lägen indes im Dunkeln. Verletzter Ingenieurstolz gelte als eine der Triebfedern des Betrugs. Aber nichts Konkretes deute auf eine Vorstands(mit)schuld hin.
Doch unabhängig davon, ob es nun ein Dutzend, Dutzende oder noch mehr Täter und Mitwisser gab: Der gesamte Konzern steht am Pranger. Allen voran die Pkw-Kernmarke, die den Skandal-Motor EA 189 entwickelte.
Die Autos mit dem VW-Emblem können die Krise am wenigsten gebrauchen. Sie waren schon vor „Dieselgate“ gewinnschwach, mussten Sparprogramme fahren. Zwar blieb der große Absatzeinbruch aus, die Marke Volkswagen verlor bisher im Jahresvergleich nur leicht. Aber sie war Ende 2015 in die roten Zahlen gerutscht. Im Frühjahr wurden Pläne bekannt, wonach bis Ende 2017 Tausende Jobs in der Verwaltung wegfallen sollen. Ein „Zukunftspakt“ soll in diesem Herbst Gewissheit bringen.
Offiziell spricht VW von „Abgasthematik“. Doch das nüchterne, teils verharmlosend anmutende Wort greift zu kurz. Das Problem geht tiefer.
Sicher: Die deutsche Wirtschaft kennt größere Skandale, etwa um Schmiergeld und Korruption. Eine solche „Kultur“ durchdrang zuweilen ganze Entscheider-Ebenen - schwarze Kassen, geheime Konten, stillschweigende Duldung und fehlendes Unrechtsbewusstsein inklusive.
Im Fall VW ist die Lage anders - und verzwickter. Nach bisherigem Stand reichte die kriminelle Energie „einiger Weniger“ aus, um mit Software - dem neuen Rad der Industrie - einen Weltkonzern aus den Angeln zu heben. Und egal, ob die Führung das zumindest ahnte oder nicht: Allein der Fakt, dass ein Bruchteil der Mannschaft dazu in der Lage ist, lässt manchen erschaudern. Der illegale Software-Code entzog sich gängigen Kontrollmechanismen. Wäre nur ein Bauteil oder Budget nötig gewesen, wäre der Betrug wohl eher aufgeflogen.
Zwölf Monate nach dem Beben gibt es aber auch Hoffnungsschimmer. Die Schockstarre ist vorbei, der Blick geht nach vorn. „Ohne „Dieselgate“ wäre der Konzern mit seinen alten Herren und autokratischen Prinzipien in der neuen Mobilitätswelt zugrunde gegangen. Es ist gut, dass er eine Zeitenwende einleitet“, lobt Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer. „In den letzten Monaten hat sich bei VW mit dem neuen Chef Matthias Müller so viel getan wie in den 20 Jahren zuvor nicht.“
In puncto Digitalisierung gebe es konkrete Pläne wie den Einstieg beim Fahrdienst-Vermittler Gett, und das Ziel von einem Viertel Elektroauto-Anteil im Jahr 2025 sei „glaubhaft“. Dem Superlativ der Täuschung folgt damit ein Superlativ des Aufbruchs. „Wir haben den Startschuss gegeben für den größten Veränderungsprozess in der Geschichte von Volkswagen“, sagt Müller über die Neuausrichtung.
Aber reichen neue Ziele, neue Produkte, neue Geschäftswege? Muss sich angesichts der Dimension der Affäre nicht auch Grundsätzlicheres ändern? Arbeitnehmerboss Osterloh findet dazu im Frühjahr bei einer Rede im niedersächsischen Landtag nachdenkliche Worte: Es gehe darum, die „moralischen Fundamente unseres Unternehmens“ neu zu befestigen. VW habe sich an sich selbst berauscht - und dabei oft übersehen, „dass nicht jedes Problem ingenieursmäßig behandelt werden kann“.
Kritiker wie Ulrich Thielemann sehen das ähnlich. „Es gibt kein genug mehr. Nie mehr. Und es reicht auch nicht mehr, im Wettbewerb um die „besten“ Produkte auf den Absatzmärkten zu reüssieren“, betont der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Er hält das Bonus-Anreizsystem bei VW für die eigentliche Wurzel des Skandals.
Denn nicht nur Vorstände kassieren üppige Prämien. Auch der Mittelbau mit Fach- und Führungskräften wird entsprechend entlohnt, so dass die Boni Großteile des Einkommens ausmachen können. Thielemann warnt: „Damit werden den unternehmensinternen Entscheidungsträgern die Bedenken, die sie gegenüber dieser oder jener Praxis hegen könnten, gleichsam abgekauft.“ Der Experte sieht in der Personalisierung der Affäre - Winterkorn muss gehen, VW verweist auf „einige Wenige“ - den Versuch, das tatsächliche Übel der Gewinnmaximierung zu vertuschen. Und auch die Politik dürfe bei alldem nicht ungeschoren davonkommen.
Im Bundestag nimmt nun ein Untersuchungsausschuss seine Arbeit zur Abgas-Affäre auf. Er durchleuchtet verdächtige Praktiken auch anderer Autobauer und dürfte Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) unangenehme Fragen stellen. In Brüssel gibt es so ein Gremium schon länger, die EU ringt außerdem um fälschungssichere Emissionstests.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen 30 Beschuldigte - darunter Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess. Am benachbarten Landgericht liegen milliardenschwere Schadenersatzklagen. In den USA gelang den Wolfsburgern ein erster Vergleich, er könnte bis zu 14,7 Milliarden Dollar (13,0 Mrd Euro) kosten. Dort packt nun auch ein beteiligter Ex-Ingenieur aus, der schwere Vorwürfe erhebt. Was darüber hinaus droht, ist unklar. Mehrere US-Bundesstaaten klagen.
Längst trifft die Krise zudem den Normalbürger an den VW-Standorten, wo die Gewerbesteuern einbrechen. Vieles wird teurer - Kindergärten, Schwimmbäder, Kultureinrichtungen, die Grabpflege. Und nicht nur in den USA nehmen etliche Menschen Volkswagen das Image des „sauberen Diesels“ nicht mehr ab. Das dürfte auf Jahre eine Bürde sein für den Autobauer, der vor einiger Zeit beim Golf noch damit warb, dass der Mensch „in einer Woche bis zu 87 500 Liter Luft einatmet“ und sich darum dank innovativer Abgas-Technologien nicht sorgen müsse.
Winterkorn-Erbe Müller sprach bei einer Betriebsversammlung am Mittwoch mehr als 20 000 VW-Mitarbeitern Mut zu. „In den ersten Wochen und Monaten nach meinem Amtsantritt waren wir noch Getriebene, angesichts der Dimension des Ganzen, die erst Stück für Stück klar wurde. Mittlerweile bekommen wir das Heft des Handelns immer mehr in die Hand. Natürlich gibt es Rückschläge. Dennoch: Volkswagen hat in den vergangenen zwölf Monaten substanzielle Fortschritte gemacht.“
Man könne die Zeit nicht zurückdrehen, hatte der Chef schon im Sommer gemeint. „Was in unseren Händen liegt, ist, verantwortungsvoll damit umzugehen. Dieser Aufgabe stellen wir uns.“ Müllers Mission: „alles zu tun, um verlorenes Vertrauen wieder zu stärken“. Das nächste Jahr dürfte zeigen, ob VW den Kopf noch mal aus der Schlinge ziehen kann.