Silvester als „Wendepunkt“ Ein Jahr „Köln“: Wie eine Nacht die Stimmung drehte
Köln (dpa) - Der Dom, die Rauchschwaden, die vielen Männer. Die Aufnahmen, die aus der vergangenen Kölner Silvesternacht vorliegen, verraten oft gar nicht viel darüber, was vor rund einem Jahr genau passierte.
Dafür ist das Licht zu schummrig und das Geschehen zu chaotisch.
Wer heute aber einen Blick auf die Bilder wirft, hört es im Kopf rattern. Eine Assoziationskette setzt sich in Gang, die bis ins Kanzleramt reicht. Die Flüchtlingspolitik, der Ruf nach dem starken Staat, das Erstarken der Populisten - „Köln“ lässt sich heute als Chiffre für viele Phänomene lesen, die Deutschland 2016 beschäftigt haben. Die Stimmung im Land hat sich innerhalb eines Jahres stark verändert.
Der Ereignisse der Nacht sind mittlerweile deutlich besser aufgearbeitet als zu der Zeit, als die gesellschaftliche Debatte darüber bereits heißlief. Entfesselte Männergruppen bestahlen, belästigten und bedrängten am Hauptbahnhof massenhaft Frauen. Die Polizei kann den Frauen nicht helfen, ist überfordert. Die Täter werden von Zeugen als arabisch und nordafrikanisch beschrieben. Wie sich herausstellt, sind viele Flüchtlinge darunter. Das Vertrauen der Deutschen in einen funktionierenden Staat, der seine Bürger schützen und Chaos verhindern kann - es wird erschüttert.
Viele ziehen ihre Schlüsse allerdings, bevor Gewissheit über die Geschehnisse der Nacht herrscht. Die Wut richtet sich schnell gegen die Kanzlerin, die die ganzen Flüchtlinge ja ins Land gelassen habe. Die Flüchtlingspolitik, die beschworene Willkommenskultur steht schneller zur Debatte als Fakten vorliegen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ von einer „Entfesselung des Bestätigungsdenkens“. Die Skeptiker, die es ja schon gibt, bekommen Oberwasser.
Der Philosoph Wolfram Eilenberger glaubt heute, dass in der damaligen Gemengelage auch jedes andere ähnlich gelagerte Ereignis zu vergleichbaren Reaktionen geführt hätte. „Die Kölner Silvesternacht bekommt ihre Bedeutung durch den historischen Kontext“, sagt der Chefredakteur des „Philosophie Magazins“. „Es war eine Art Schubumkehr. Im Herbst 2015 hatte man mit dem Lob der Willkommenskultur vollkommen übersteuert. Die Silvesternacht löste in diesem Umfeld einen umso größeren Gegenschub aus.“
Dieser Schub trifft auch die Medien, denen manche vorwerfen, zu zögerlich berichtet zu haben. Es habe zwar auch vor Silvester Berichte darüber gegeben, was in der Flüchtlingspolitik falsch gelaufen sei, sagt der Mainzer Medienwissenschaftler Christian Schemer. Das sei aber mehr so mitgeschwommen. „Die Silvesternacht als singuläres Ereignis war dann für manche ein Ventil, um zu sagen: 'Siehste! Die Medien haben uns das alles verschwiegen.'“
Die Gräben in der Gesellschaft, die die Nacht überdeutlich auftat, sind bis heute nicht verschwunden. Der Protest entlädt sich im Internet und auch bei Wahlen. Die AfD zieht in Sachsen-Anhalt mit mehr als 24 Prozent in den Landtag ein, in Mecklenburg-Vorpommern wird sie zweitstärkste Kraft.
Die Politik versucht, eine Antwort zu finden. Nicht mal drei Monate nach dem Jahreswechsel tritt ein verschärftes Asylrecht in Kraft, das die Hürden herabsetzt, um einen straffällig gewordenen Ausländer in seine Heimat zurückzuschicken. Nach den Gewalttaten von Ansbach und Würzburg folgen weitere Maßnahmen.
Auch kommen viel weniger Flüchtlinge. Die Balkanroute wird faktisch geschlossen, EU und Türkei einigen sich auf einen Flüchtlingspakt. Im November 2016 etwa werden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 26 438 Asylanträge gestellt. Das bedeute einen Rückgang um 54,3 Prozent im Vergleich zum November 2015.
Aber die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen. „Wir haben mittlerweile eine gespaltene politische Kultur“, sagt der Bonner Politikwissenschaftler Tilman Mayer. Die Hälfte der Bevölkerung sei mit der Haltung, die immer noch mit der Bundeskanzlerin verbunden werde - mit der Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen - nicht einverstanden. „Sie haben den Eindruck: Der Staat kontrolliert den Vorgang nicht genügend, sei nicht glaubwürdig.“
Und das, obwohl sich Merkel de facto ja von ihrem „Wir schaffen das“ distanziert habe, sagt Mayer. „Die Silvesternacht hat der Debatte über die Flüchtlingspolitik einen anderen Zungenschlag gegeben.“
Hinzu kommt, dass die politischen Kräfte noch darum ringen, was tatsächlich die richtige Antwort auf die wahrgenommene Verunsicherung sein soll. Als Mitte Dezember 34 abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben werden, hagelt es Kritik - das Land sei viel zu gefährlich. Die Bundesregierung hält hingegen Regionen des Landes für hinreichend sicher.
Die Diskussion zeige die Schwierigkeiten der Politik, sagt Politikwissenschaftler Mayer. „Man will einerseits den starken Staat demonstrieren, andererseits sind die Maßnahmen unangenehm. Es gibt einerseits ein Klima der humanitären Gesinnung, andererseits das Bedürfnis nach Sicherheit und Sanktionen.“ Das sei allerdings die Gemengelage vor dem Anschlag von Berlin gewesen.
„Wenn man es positiv formulieren will: Wir befinden uns in einem Lernprozess“, sagt Mayer. Zu diesem gehöre auch, dass ein starker Staat nicht im Widerspruch zu einem liberalen Staat stehe.
Während 2015 noch geprägt war von den Versuchen, irgendeine Antwort auf die Flüchtlingsbewegung zu finden, ist Deutschland spätestens 2016 in den Verarbeitungsmodus übergegangen. Offen scheint die Frage, wohin die Beschäftigung mit den eigenen Ängsten führen wird. 2017 sind Bundestagswahlen.
Davor kommt eine weitere Silvesternacht - diesmal mit zehn mal so viel Polizei in der Kölner Innenstadt, moderner Videoüberwachung und anderen Maßnahmen, um eine Wiederholung der dramatischen Ereignisse zu verhindern. Es ist davon auszugehen, dass die Stadt wie unter einem Brennglas beobachtet wird, national und international.
Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) gibt sich betont kämpferisch: „Wir lassen uns nicht in Angst und Schrecken versetzen. Und wir lassen unseren Lebensstil nicht von Aggressoren, von Terroristen oder von Straftätern bestimmen.“
Auf der Domplatte sollen auch ganz andere Bilder entstehen. Der Berliner Lichtkünstler Philipp Geist inszeniert dort eine Licht-Show, genannt „Licht-Traum-Raum“. Die Kölner können für die Projektion eigene Worte vorschlagen, die dann auf der Domplatte zu sehen sein werden. Eine Einsendung lautet: „Trotz alledem.“