Feature: Tausende wegen „Sandy“ in Schutzräumen
New York (dpa) - Eine Windböe fegt über die Lexington Avenue in New York und mittendrin bettelt Lamar Louis um eine Zigarette. „Ich habe schreckliche Angst“, sagt der massige Mann mit dem gestreiften, schlabbrigen Pullover.
Blätter, Zeitungen und kleinere Äste wirbeln im strömenden Regen um ihn herum.
„Ich muss jetzt unbedingt erstmal eine Zigarette rauchen, um meine Panik in den Griff zu bekommen.“ Normalerweise lebt Louis auf der Straße im vielerorts ärmlichen Stadtteil Bronx, aber der Monstersturm „Sandy“ hat auch sein Leben durcheinander gefegt.
Die Polizei habe ihn am Montagmorgen (Ortszeit) noch bevor der Sturm losgegangen sei auf der Straße aufgegabelt, erzählt der 33-jährige Obdachlose. „Sie haben mir ein Papier mit allen Notunterkünften in die Hand gedrückt und dann haben sie mich hierhin gefahren.“ In einer Notunterkunft in einer Turnhalle des Hunter College im schicken Stadtviertel Upper East Side in Manhattan ist Louis untergekommen. „Ich bin so froh, dass ich hier bin. Endlich kann ich aufatmen und mich ein bisschen sicher fühlen“, sagt der Afro-Amerikaner und entblößt beim Lächeln sein Gebiss mit einem fehlenden Schneidezahn.
„Sandy“ könnte ein Jahrhundert-Unwetter über die dicht besiedelte US-Ostküste bringen, hatten Meteorologen schon Tage im Voraus gewarnt. Rund 50 Millionen Menschen könnten betroffen sein. Allein in New York mussten fast 400 000 Menschen ihre Wohnungen und Häuser in tiefer gelegenen Gegenden verlassen. Dabei handelt es sich vor allem um die am Wasser gelegenen Randgebiete verschiedener New Yorker Stadtviertel. Auch Szene-Viertel in Manhattan wie Greenwich Village oder Tribeca, in denen viele Prominente wohnen, waren betroffen. Die meisten Menschen kamen bei Freunden und Verwandten unter oder verließen die Stadt. Etwa 4000 Menschen begaben sich nach Angaben von Bürgermeister Michael Bloomberg in Notunterkünfte.
„Bei uns sind etwa 120 Menschen - einige Familien, aber hauptsächlich Alleinlebende und natürlich viele Obdachlose“, sagt Charlie. Der kleine Mann mit der roten Weste und dem kahlen Kopf organisiert ehrenamtlich die Notunterkunft im Hunter College. Seinen Nachnamen will er nicht nennen und in die zum Schutzraum umfunktionierte Turnhalle lässt er nur Schutzsuchende, keine Journalisten oder Neugierige. „Die Menschen dort brauchen ihre Privatsphäre und ihre Ruhe.“
Seit Samstag seien einige von ihnen schon da. Ihre Namen tragen Helfer am Eingang in Listen ein. Wenn die Schutzsuchenden raus auf die Straße wollen - und sei es nur kurz - müssen sie sich abmelden. „Wir müssen einen Überblick haben, damit uns niemand verloren geht“, sagt Charlie. Die Stimmung sei angespannt, aber ruhig. Für Wasser, Essen und Matratzen sei gesorgt. „Wir sind vorbereitet. Die Menschen können hier so lange bleiben, bis der Bürgermeister sagt, dass alles wieder in Ordnung ist.“