Keinerlei Einfluss auf Erdogan Grenzen der Glaubwürdigkeit: EU ringt um Türkei-Gespräche
Brüssel (dpa) - Auf keinen Fall ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen: Noch im Sommer hatten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker davor gewarnt, der Türkei die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu nehmen.
Die Beitrittsgespräche würden die Möglichkeit bieten, positiv auf die Regierung in Ankara einzuwirken, lautete das Motto. Ohne sie fiele für die Türkei und Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein wichtiger Anreiz weg, sich bei Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an europäische Standards zu halten. Und nicht zuletzt wolle man auch die Kooperation in der Flüchtlingskrise nicht aufs Spiel setzen.
Wenige Monate später ist zumindest von den ersten Argumenten keine Rede mehr. Die jüngsten Ereignisse haben der EU-Kommission vor Augen geführt, dass sie trotz der noch laufenden Beitrittsgespräche keinerlei Einfluss auf die türkische Führung zu haben scheint. Entsetzt musste Juncker & Co. in der vergangenen Woche zusehen, wie im „Kampf gegen den Terror“ sogar oppositionelle Parlamentsabgeordnete und der Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ festgenommen wurden.
Entsprechend liest sich nun der neue Bericht zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. In dem mehr als Hundert Seiten langen Dokument, das am Mittwoch in Brüssel vorgestellt wurde, beschreiben Experten ausführlich, wie sich das Land in den vergangenen zwölf Monaten entwickelt beziehungsweise zurückentwickelt hat. Von einer „Beschneidung der Grundrechte“, „gravierenden Rückschritte im Bereich der Meinungsfreiheit“ und „nicht mit europäischen Standards vereinbare“ Gesetzesänderungen und Reformen ist die Rede. Mit großer Besorgnis werden zudem die sich häufenden Folter- und Misshandlungsvorwürfe gesehen.
Die türkische Führung müsse nun endlich sagen, ob sie wirklich wie immer wieder betont an einem EU-Beitritt des Landes interessiert sei, forderte der für die Verhandlungen mit dem Land zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn zur Vorstellung des Berichts. Die jüngsten Ereignisse seien ein Test für die Glaubwürdigkeit der Türkei, gleichzeitig aber auch für die der EU.
Beim Thema Glaubwürdigkeit muss sich allerdings spätestens seit diesem Mittwoch auch die EU-Kommission kritische Fragen gefallen lassen. In den Leitlinien für die EU-Beitrittsverhandlungen ist nämlich eigentlich vorgesehen, dass die Gespräche bei einem „schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß“ gegen europäische Grundwerte zumindest vorübergehend gestoppt werden.
Wird ein solcher Verstoß festgestellt, müsste eigentlich die EU-Kommission das Aussetzen der Verhandlungen empfehlen. In der Folge würde es dann eine Abstimmung im Kreis der Mitgliedstaaten geben. Beschlossen wäre der Vorschlag, wenn ihm 16 der insgesamt 28 Länder zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten.
Hahn wollte sich am Mittwoch nicht klar dazu äußern, ob er diesen Schritt empfehlen will. Er schob die Verantwortung stattdessen ab. „Jetzt ist es an den Mitgliedstaaten, Schlussfolgerungen zu ziehen, sagte er mit Blick auf die kommenden EU-Außenministertreffen an diesem Montag und im Dezember.
In den EU-Hauptstädten war man sich bislang keineswegs einig darüber, wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergehen soll. Bis zuletzt hatte sich lediglich Österreich ganz klar für einen Abbruch ausgesprochen. Zahlreiche andere Staaten verwiesen hingegen bis zuletzt auf die Bedeutung des Nato-Mitglieds für die europäische Sicherheits- und Flüchtlingspolitik. „Die Türkei ist ein Schlüsselland“, räumte auch Hahn am Mittwoch noch einmal ein.
Der türkische Präsident Erdogan äußerte sich am Mittwoch selbstbewusst und provokativ zu den bevorstehenden Diskussionen. „Ungeniert und ohne Scham sagen sie, die EU-Verhandlungen mit der Türkei müssen überprüft werden“, kommentierte er in Istanbul. „Na los, überprüft sie so bald wie möglich. Überprüft sie schleunigst. Aber wenn ihr sie schon überprüft, zögert es nicht noch weiter hinaus, sondern fällt eure endgültige Entscheidung.“