In der Zwickmühle: Gewalt in Ankara gefährdet EU-Flüchtlingspläne
Brüssel/Ankara (dpa) - Was tun mit dem Partner Türkei? Nach dem Anschlag in Ankara werden Stimmen lauter, die die EU vor einer engen Kooperation mit der islamisch-konservativen Führung des Landes warnen.
Doch geht es überhaupt ohne die Türkei? Gerade in der Flüchtlingskrise?
Fragen und Antworten zum Thema:
Was könnte der Anschlag für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei bedeuten?
Für die EU sind der Anschlag und vor allem die schweren Anschuldigungen der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ein großes Problem. Wenn sich der Eindruck verfestigt, dass die Politik Erdogans Anschläge dieser Art provoziert, muss sich die EU die Frage stellen, ob sie mit jemandem wie ihm wirklich eng kooperieren kann.
Warum braucht die EU die Türkei?
Die Türkei ist das wichtigste Drehkreuz für Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak. Über das Land am Bosporus kamen in den vergangenen Monaten Hunderttausende Menschen in die EU. Um den Flüchtlingszustrom einzudämmen, will die EU nun enger mit Ankara zusammenarbeiten: Mit europäischen Geldern könnten in der Türkei weitere Flüchtlingslager entstehen. Zudem wünschen sich die EU-Staaten, dass die Türkei mit einem besseren Küsten- und Grenzschutz dafür sorgt, dass nicht mehr so viele Flüchtlinge in Richtung EU reisen können.
Was verlangt die Türkei von der EU für mehr Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise?
Bei seinem Besuch in Brüssel soll Erdogan in der vergangenen Woche etliche Bedingungen für stärkere Zusammenarbeit im Migrationsbereich gestellt haben. Nach Angaben von Diplomaten will er erreichen, dass die Bürger seines Landes künftig ohne Visa in EU-Länder einreisen dürfen. Zudem fordert er unter anderem eine Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen, die Einstufung seines Landes als „sicherer Herkunftsstaat“ und ein Engagement der EU für militärisch gesicherte „Schutzzonen“ in Nordsyrien. Dort könnten Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens untergebracht werden.
In welchen Bereichen könnte die EU der Türkei entgegenkommen?
Das ist eine hochumstrittene Frage. Beim Thema Reisefreiheit ist im Gespräch, in einem ersten Schritt türkische Geschäftsleute von der Visapflicht zu befreien. In vielen anderen Bereichen gibt es von Mitgliedstaaten zum Teil erhebliche Widerstände. Eine Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen lehnen zum Beispiel Griechenland und Zypern wegen territorialer Streitigkeiten mit Ankara ab. Die Einrichtung von Schutzzonen in Syrien würde voraussichtlich ein Militärengagement bedeuten, was unter anderem Deutschland ablehnt.
Kann Erdogan denn auf den Status des sicheren Herkunftsstaates hoffen?
Zumindest die EU-Kommission und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprachen sich zuletzt dafür aus. Für Erdogan ist der Status eine Frage der Ehre. Als sicheres Herkunftsland kann nämlich nur ein Rechtsstaat eingestuft werden, in dem es keine politische Verfolgung oder andere systematische Menschenrechtsverletzungen gibt.
Und was sagen die Kritiker?
Sie halten es für absolut falsch, der Türkei entgegenzukommen und verweisen auf Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit oder das „hohe Maß an Gewalt gegen Frauen“. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) machte am Samstag ein Klima des Hasses unter Erdogan für den Anschlag in Ankara mitverantwortlich und sagte: „Es kennzeichnet den ganzen Zynismus der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik, wenn diese Türkei zum sicheren Herkunftsland definiert werden soll.“ Selbst Spitzenvertreter der EU drohen indirekt: „Wir stehen an der Seite aller Menschen in der Türkei, die zusammenarbeiten, um Gewalt und Terrorismus zu bekämpfen“, hieß es am Wochenende in einer Stellungnahme der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Das lässt sich auch als Kritik an Erdogan lesen, der in den vergangenen Wochen wenig Anstalten machte, auf die Kurden zuzugehen.
Wird es einen Kompromiss geben?
Das dürfte sich beim Treffen der Staats- und Regierungschefs Ende der Woche in Brüssel zeigen. Diplomaten verweisen darauf, dass Erdogan noch vor der Wahl am 1. November Zugeständnisse der EU sehen will - und dass die EU in der Flüchtlingskrise auf ihn angewiesen ist.