Kriminalpsychologe: „Hass auf die, denen es besser geht“
München (dpa) - Was hat den 18-Jährigen in München getrieben, andere junge Menschen zu töten - und wie geht die Gesellschaft mit so einer Tat um? Dazu äußert sich im Interview der dpa der Kriminalpsychologe und frühere Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg.
Frage: Amokläufer suchen sich oft diejenigen Menschen oder Institutionen als Ziel, die sie für ihr Leiden verantwortlich machen. Hier sieht die Polizei keinen Zusammenhang mit dem Tatort im Schnellrestaurant. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Antwort: Der Täter hat über eine Facebook-Einladung andere junge Leute in das Restaurant zu locken versucht. Das ergibt einen Sinn: Er hatte ja Probleme - und die anderen haben es geschafft. Etwa so: „Die kriegen etwas, was ich nicht habe. Die gehören dazu, ich nicht.“ So etwas gibt es auch in Familien - und im Alten Testament bei Kain und Abel: „Er hat die Gnade des Vaters und ich nicht.“ Man hat einen Hass auf die, denen es besser geht.
Frage: Ermittler sehen eine Verbindung zum Jahrestag des Attentats von Anders Behring Breivik. Er war ein Rechtsextremer und hatte sich die Verteidigung gegen den Islam auf die Fahnen geschrieben. Muss man davon ausgehen, dass solche Motive auch in München im Spiel waren?
Antwort: Es ist unter Umständen eine Frage des Zufalls, unter wessen Fahne man sich stellt. Es geht um eine persönliche Not. Untersuchungen zur Entwicklung des Rechtsextremismus zeigen: Viele Jugendliche hatten sich angeschlossen, ohne dass wirklich politische Ziele dahinter steckten. Es hätte auch etwas anderes sein können. Das Label ist fast beliebig, Hauptsache, man erregt damit Aufmerksamkeit. Man möchte groß rauskommen. Und das ist dem Mann in München ja auch gelungen.
Frage: Müssen wir befürchten, dass gerade das Nachahmer befeuert?
Antwort: Ich rechne nicht mit einer Welle von Trittbrettfahrern. Aber es kann Nachahmer geben, die mit der Angst der Menschen spielen. Man hat gesehen, dass manche einen Alarm ausgelöst und sich dann gefreut haben, wenn alle weglaufen. Aber bis jemand wirklich so eine Tat begeht, braucht es Vorbereitung, er muss etwa eine Waffe besorgen.
Frage: Wie können wir uns vor Taten wie in München schützen?
Antwort: Gegen so einen einsamen Wolf gibt es keinen wirksamen Schutz. Es macht keinen Sinn, in Schulen zu gehen und zu schauen: Wo ist ein gefährlicher Schüler - und ein tatsächlich Gefährlicher bleibt doch unerkannt. Wir sollten eher auf eine gute Sozialpädagogik setzen. Sich kümmern, Hilfe und Zuwendung - das macht Sinn.
Frage: In München ist die Angst eskaliert. Noch bei dem Terroralarm in der Silvesternacht blieben die Münchner überaus gelassen. Was hat sich verändert?
Antwort: Es sind dieses Mal wirklich Schüsse gefallen. Und in den letzten Wochen sind so viele schreckliche Dinge passiert. Nizza und Würzburg, aber auch Orlando und der Putschversuch in der Türkei: Es ist eine Kette von schlimmen Ereignissen, die sich in das Bewusstsein der Menschen eingeprägt haben. Sie vermischen sich in der Wahrnehmung der Menschen, auch wenn sie nichts miteinander zu tun haben.
Frage: Laufen wir auf eine Angstgesellschaft zu und was können wir dagegen tun?
Antwort: Was man tun kann, ist, sich bewusst machen, dass die Gefahr da ist, dass sie aber nicht sehr groß ist. Die Gefahr bei Unwettern oder einem Verkehrsunfall ist höher. Aber daran haben wir uns gewöhnt. Beispiel Verkehrsunfall: Wenn Sie je einen Unfall hatten, werden Sie die Unfallstelle danach nicht mehr so passieren wie früher. Sie ist mit negativer Energie besetzt, obwohl es mit ziemlicher Sicherheit gerade hier nicht wieder passieren wird.
Frage: Werden also Schnellrestaurants jetzt einen Umsatzeinbruch erleben?
Antwort: Interessante Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass sie für eine gewisse Zeit eine Zurückhaltung von Kunden erleben. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn so etwas passiert.
ZUR PERSON: Professor Rudolf Egg (68) ist Psychologe und Kriminologe. Sein Schwerpunkt ist Kriminalpsychologie. Mehr als 15 Jahre leitete er die Kriminologische Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden. Auch im Ruhestand forscht er weiter.