Nahost-Experte Kienzle: Bin Laden wird Märtyrer
Stuttgart (dpa) - Der von einer US-Spezialeinheit getötete Terroristenführer Osama bin Laden dürfte nach Ansicht des Nahost-Experten Ulrich Kienzle in der arabischen Welt zum Märtyrer werden.
Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass die Leiche Bin Ladens im Meer versenkt wurde, sagte der bekannte TV-Journalist der Nachrichtenagentur dpa in Stuttgart. Denn der Al-Kaida-Chef sei ein Wahhabit. „Das ist die extremste Form des sunnitischen Glaubens. Die kennen keine Gräberinschriften. Da wird anonym beerdigt. Man hätte ihn also in seinem Heimatland beerdigen können, ohne dass ein Grab mit einem Märtyrerstatus entstanden wäre“, erläuterte Kienzle.
Er fügte hinzu: „Das gehört alles zu den vielen Missverständnissen zwischen dem Westen und dem Nahen Osten, die durch Unkenntnis und auch durch Arroganz auf Seiten des Westens verursacht werden.“
Kienzle sagte: „Zynisch betrachtet könnte man den Tod Bin Ladens als eine für beide Seiten relativ vernünftige Lösung ansehen. Denn die Amerikaner sparen sich einen Prozess und eine mögliche Inhaftierung im Gefangenenlager Guantánamo und alles, was damit zusammenhängt. Und Osama bin Laden hat ja immer verkündet, dass er den Tod liebt und gerne stirbt. Nun wird er genau das, was er immer werden wollte - ein großer Märtyrer.“
Durch die Kommandoaktion würden der Terroristenführer und seine Anhänger mehr aufgewertet, als den USA lieb sein könne. „Das wird die Amerikaner möglicherweise mehr beschädigen als es bei einer normalen Beerdigung der Fall gewesen wäre.“ Denn Al-Kaida habe seit einigen Jahren nicht mehr die Stärke, die der Terrororganisation zugesprochen werde. „Seit den Anschlägen von Madrid im Jahr 2005 ist Al-Kaida kein spektakulärer Schlag gegen den Westen mehr gelungen. Das spricht dafür, dass der Kampf gegen den Terrorismus - vorsichtig ausgedrückt - ein bisschen Erfolg hatte“, meinte Kienzle.
Auch die Stärke der Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern sei ein Beleg für den seit einiger Zeit schwindenden Einfluss von Al-Kaida: „Bin Ladens Stellvertreter Eiman al-Sawahiri hat 30 Jahre lang versucht, Ägyptens Staatschef Husni Mubarak mit terroristischen Mitteln zu stürzen, und diese jungen Leute haben es in drei Wochen geschafft. Die Leute, die da in Kairo auf dem Tahrir-Platz auftauchten, trugen keine langen Bärte und forderten auch nicht die Zerstörung Israels oder den Gottesstaat. Die forderten ganz vernünftige Dinge wie Arbeitsplätze, Würde und Demokratie.“
Allerdings sei die Lage in Ägypten noch lange nicht stabil: „Formal ist das noch immer eine Militärdiktatur.“ Befürchtungen, wonach islamistische Kräfte nach dem Tod Bin Ladens neuen Zulauf bekommen könnten, seien durchaus berechtigt, zumal die Situation in vielen arabischen Staaten im Umbruch sei. „Die Regime sind derzeit dabei, zurückzuschlagen.“
Dies zeige sich unter anderem in Syrien, auch wenn von dort derzeit nur wenig zuverlässige Informationen zu bekommen seien. Aber das syrische Regime habe schon in der Vergangenheit mit größter Brutalität seinen Machtanspruch durchgesetzt. So habe es im Jahr 1982 ein riesiges Massaker in der Stadt Hama gegeben, bei dem zwischen 20 000 und 30 000 Moslembrüder ermordet wurden. Die Stadt wurde zerstört und völlig neu aufgebaut. Damit hätten die Machthaber ein Exempel gegen missliebige Kritiker statuiert.
Kienzle hält allerdings das Eingreifen des Westens in Libyen für richtig: „Die Luftangriffe kamen zur rechten Zeit, denn die Truppen von Gaddafi waren nur noch zweieinhalb Stunden von Bengasi entfernt.“ Mit den Bombardements sei ein großes Blutbad und ein vorzeitiges Ende der libyschen Revolution verhindert worden. Derzeit sei allerdings eine Spaltung des Landes zu erwarten. „Es hat sich ein militärisches Patt eingestellt und der Clan wird nicht von seiner Macht loslassen.“