Regierung erwägt Aussetzen der Kernkraft-Beschlüsse

Berlin (dpa) - Die Bundesregierung prüft nach der Atomkatastrophe in Japan auch Konsequenzen für die deutschen Atomkraftwerke und hält dabei ein Aussetzen längerer Laufzeiten für möglich. Auch ein sofortiges Abschalten älterer Meiler wurde in der Union nicht mehr ausgeschlossen.

Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) sagte am Montag in Berlin: „Wir brauchen auch eine neue Risikoanalyse.“ Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) forderte, ohne Tabus über einen „nationalen Konsens“ zu reden und neue Annahmen zu treffen. Baden-Württembergs Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) schloss im Deutschlandfunk ein Abschalten von Meilern vor der Landtagswahl am 27. März nicht mehr aus.

Denkbar ist, dass die Bundesregierung die ältesten und besonders in der Kritik stehenden Atomkraftwerke Biblis A, Isar 1 und Neckarwestheim 1 nach einem neuen Sicherheitscheck rasch vom Netz nimmt und Reststrommengen gemäß des Atomgesetzes auf neuere Anlagen übertragen werden. Für die Regierung entscheidend ist dabei wohl nicht die Laufzeitverlängerung. Sie will vielmehr die Betriebszeit jedes Meilers einzeln nach der Sicherheitsanalyse neu bewerten.

Die längeren Laufzeiten um durchschnittlich 12 Jahre waren erst im Herbst beschlossen worden. Die sieben bis 1980 ans Netz gegangenen Meiler dürfen acht Jahre länger laufen, die jüngeren 14 Jahre. Wenn die Laufzeitverlängerung komplett gekippt werden sollte, müssten Bundestag und Bundesrat ein neues Atomgesetz verabschieden. Die Regierung steht unter Zeitdruck. Am 20. März wird in Sachsen-Anhalt und am 27. März in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz jeweils ein neuer Landtag gewählt.

„Wir müssen umfassend neu über Sicherheit reden, denn wir haben eine ganz neue Erfahrung gemacht“, sagte Röttgen. „Das hat auch Auswirkungen für die deutsche Situation.“ Er betonte: „Je länger Kernkraftwerke laufen, desto länger begleitet uns Restrisiko. Und wir müssen auch über Risiken neu reden, neue Annahmen treffen.“ Dabei dürfe es keine Tabus geben. Auch die CDU müsse neu über die Sicherheit der Atomkraftwerke diskutieren.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) warnte vor Panikmache, schloss aber Konsequenzen nicht aus. „Nach menschlichem Ermessen kann das bei uns nicht passieren. Bei uns gibt es keine Tsunamis“, sagte der CDU-Vize vor einer Sitzung der Parteispitze. Er betonte aber: „Wir werden mit Sicherheit eine Sicherheitsüberprüfung machen.“ Die Ministerpräsidenten wollen sich an diesem Dienstag mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) treffen.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hatte eine Verkürzung der Atomlaufzeiten am Sonntag nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen. Der CSU-Umweltexperte Josef Göppel verlangte eine rasche Abkehr von längeren Laufzeiten. „Es gibt bestimmte Reaktortypen in Deutschland, die in Hinblick auf Katastrophenfälle keine optimale Sicherheitsarchitektur haben“, sagte Göppel der Nachrichtenagentur dpa.

Die SPD-Spitze bekräftigte ihre Forderung nach einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte mehr konkrete Schritte für die Sicherheit der Kraftwerke. „Das Schlimmste, was Frau Merkel und Herr Röttgen getan haben, war die Absenkung der Mindeststandards in den Kernkraftwerken, das muss sie rückgängig machen“, sagte er vor einer Sitzung des SPD-Präsidiums in Mainz.

Grünen-Chefin Claudia Roth sagte dem Bayerischen Rundfunk: „Kein Reaktor ist sicher bei Kernschmelze, auch kein deutscher Reaktor ist sicher. Und das hat gar nichts mit einem Erdbeben zu tun.“ Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin warf Merkel im Sender NDR Info bei der Atomdebatte „ein erbärmliches Spiel auf Zeit“ vor.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger lud die Energieminister der Europäischen Union für diesen Dienstag zu einem Energiegipfel ein. Auch Kontrollbehörden, Energieunternehmen und Hersteller der Kernkraftwerke sollten teilnehmen. Es gehe um technische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen.