Report: Jugend im Westjordanland begehrt wieder auf
Ramallah (dpa) - Wie übergroße Hagelkörner liegen die Brocken auf dem Asphalt. Hunderte Pflastersteine, faustgroß, bedecken den Boden - als wären sie vom Himmel geregnet.
In Wahrheit haben junge Palästinenser die Steine als Geschosse benutzt und sie auf israelische Soldaten geschleudert. Hier, am Grenzübergang Kalandia zwischen Jerusalem und Ramallah, sind die Überreste der Protestnacht noch nicht beseitigt. Es würde sich auch nicht lohnen: Die nächsten Krawalle kommen bestimmt.
Seit Tagen entzünden sich im Westjordanland Proteste - im Schatten des Gaza-Kriegs, der auf palästinensischer Seite schon mehr als 1000 Todesopfer forderte. In Nablus und Hebron liefern sich Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei, in Ramallah marschieren Tausende Palästinenser auf. Am Grenzposten Kalandia entlädt sich ihre Wut. Sie werfen Steine, schießen mit Feuerwerksraketen, zünden Autoreifen an. Die israelischen Soldaten feuern mit Gummigeschossen und scharfer Munition. Seit Donnerstagnacht wurden mindestens neun Palästinenser durch Schüsse getötet.
Die Menschen im Westjordanland demonstrieren ihren Unmut über Israels Angriffe gegen den - etwa von Hebron nur rund 50 Kilometer entfernten - Gazastreifen. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum sie aufbegehren. Die Friedensverhandlungen der Palästinenser mit Israel sind gescheitert, die im Juni vereidigte Einheitsregierung ebenfalls. Rund 20 Prozent der Bevölkerung haben keine Arbeit, unter den 20- bis 24-Jährigen ist es beinahe jeder Zweite.
Daher verwundert es nicht, dass gerade die jungen Menschen auf einen Wandel drängen. Rettungskräfte berichten, dass viele Kinder und Jugendlichen an den jüngsten Protesten teilgenommen hätten. Eine von ihnen war die 17-jährige Dalal.
Über Facebook hatte sie sich mit ihren Freundinnen zu der Demonstration verabredet. Zu sechst waren sie am Abend Richtung Kalandia losgezogen. Von allen Seiten reihten sich Menschen ein, und gemeinsam ließen sie Palästina hochleben. Später sah Dalal zu, wie Steine und Brandflaschen flogen. „Es war ein tolles Gefühl, dabei zu sein“, sagt sie.
Als die zweite Intifada ausbrach, der letzte Aufstand der Palästinenser, war Dalal vier Jahre alt. Sie erinnert sich nicht an die Zeit davor, als es noch keine Sperranlagen gab und viele Palästinenser in Israel arbeiteten. Sie hat die Selbstmordattentate gegen Israel nur als Kind erlebt, sah nicht, wie hart die Armee zurückschlug. Aber sie weiß, dass die letzten zehn Jahre im Westjordanland verhältnismäßig ruhig waren.
Präsident Mahmud Abbas verurteilt den Terror. Trotzdem wurden immer mehr Siedlungen gebaut, und die Palästinenser kamen einem eigenen Staat nicht näher. So jedenfalls empfindet es Dalal. „Es reicht“, sagt sie. „Wir brauchen etwas Großes, eine dritte Intifada. Sonst bewegt sich Israel nicht.“
Ähnlich wie Dalal sieht es auch Jasan. Vor dem Gaza-Krieg habe er Verständnis für die Israelis aufbringen können, sagt er. „Sie denken: Das ist unser Land. Und wir denken eben dasselbe.“ Aber seit die Bilder toter Frauen und Kinder über seinen Bildschirm flimmern, hat Jasan Zweifel, ob sich die Zurückhaltung der vergangenen Jahre gelohnt hat. „Frieden funktioniert nicht“, sagt er bitter. „Wir haben nichts dafür bekommen.“
Deshalb ging Jasan jüngst zum ersten Mal auf eine Demonstration. Während der Krawalle rannte er umher, sammelte Steine auf und gab sie an die erste Reihe weiter, wo erfahrene Palästinenser damit auf Soldaten zielten.
Jasan ist kein plumper Krawallmacher. Er trägt teure Kleidung und hat das Haar ordentlich frisiert, im Herbst wird er Psychologie studieren. Dennoch sagt Jasan: Demonstrationen sind nicht genug. Sie tun Israel nicht weh, setzen es nicht unter Druck. „Wir müssten die Siedler angreifen“, sinniert er. Dann könnten die Palästinenser endlich Bedingungen stellen: ein Ende der Attacken gegen einen eigenen Staat.
Kann Gewalt wirklich eine Lösung sein? Jasan zuckt mit den Schultern. „Was sollen wir denn sonst tun?“ Jasan ist 18 Jahre alt. Einen Israeli ohne Uniform hat er noch nie getroffen.