Musterland für Integration Rückschlag für Trudeaus Politik der offenen Tür?
Québec (dpa) - Es ist ein kalter Sonntagabend, als sich die Gläubigen in einer Moschee im kanadischen Québec zum Gebet versammeln. Die Männer beten im Erdgeschoss des Islamischen Kulturzentrums im Stadtteil Sainte-Foy, im oberen Stockwerk halten sich Frauen und Kinder auf.
Um kurz vor 20 Uhr betreten zwei in schwarz gekleidete, maskierte Angreifer das Gotteshaus und schießen auf die Betenden, wie Augenzeugen später berichten. Bald darauf sind sechs Menschen tot und 19 verletzt, fünf schweben in Lebensgefahr.
„Es war jemand, der mit Waffen umgehen konnte“, sagt ein Mann der Zeitung „Globe and Mail“, der auf dem Bauch liegend im vorderen Teil der Moschee ausharrt, als einer der Angreifer sein Magazin leert. Berichten zufolge ist dieser mit einem Kalaschnikow-Sturmgewehr unterwegs. „Er tötete und tötete. Es war wirklich schrecklich.“ Wie viele andere hatte der Augenzeuge, der seinen Namen nicht nennt, geglaubt, die beschauliche Stadt in der französischsprachigen Provinz sei sicher, Kanada sei sicher. „Aber leider ist das nicht der Fall.“
Während Ärzte um die Leben der Schwerverletzten ringen und beide mutmaßlichen Angreifer festgenommen werden, bemühen sich Ermittler um rasche Aufklärung. Was trieb die Angreifer, die bei ihrer Attacke „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) gerufen haben sollen, zu dem Blutbad in einem muslimischen Gotteshaus? Waren es radikale Islamisten, die das friedliche Zusammenleben gläubiger Muslime mit den Angehörigen anderer Religionen störte? Kämpfen selbst ernannte Gotteskrieger in Kanada gegen Mitglieder ihrer eigene Glaubensgemeinschaft? Einer der Angreifer soll laut Medienberichten aus Marokko stammen.
So oder so dürfte die Tat rechten Gruppen wie Atalante Québec, La Meute und den Soldaten Odins, die anti-islamische Parolen verbreiten und Stimmung gegen Einwanderer machen, in die Karten spielen. Kanadas linksliberaler Premierminister Justin Trudeau, der noch vor Ende der polizeilichen Ermittlungen von einem Terrorakt spricht, bemüht sich um Schadensbegrenzung. Muslimische Kanadier seien in Kanada Teil des „nationalen Gewebes“, sagt er. „Vielfalt ist unsere Stärke.“
Immer wieder wird Kanada dafür gelobt, Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen, religiöse Toleranz zu leben und Migranten vom ersten Tag an beim Übergang in ihren neuen Alltag zu begleiten. Von den 765 000 Einwohnern Québecs identifizieren sich rund 6700 als Muslime. Landesweit machen Muslime 3,2 Prozent der Bevölkerung aus und stellen damit nach Christen die größte Glaubensgemeinschaft. Trudeau, der seine Politik der offenen Tür mehrfach gegen Angriffe von Rechts verteidigte, muss nun mit erneutem Widerstand rechnen.
Kommen könnte der auch von Donald Trump, der gleich in seiner ersten Woche als US-Präsident einen Einreisestopp gegen sieben mehrheitlich muslimischen Länder verhängt hat. Trumps Rhetorik gegen Muslime aus dem Wahlkampf ist in Kanada in der Lautstärke noch nicht angekommen. Doch auch die Kanadier sind gespalten: In einer Umfrage aus Ontario gab 2016 nur ein Drittel der Befragten an, einen positiven Eindruck vom Islam zu haben. Mehr als die Hälfte der Befragten sprach von einem Gefühl, dass die islamische Lehre Gewalt fördere. Auch die gegen Muslime gerichteten Gewalttaten haben sich gemehrt.
Neun Jahre waren die Konservativen unter Stephen Harper an der Macht, ehe Trudeau das Zepter übernahm. Harpers Wahlniederlage ging 2015 ein nach kanadischen Standards unschöner Wahlkampf voraus: seine Partei setzte ein Burka-Verbot auf die Agenda, als sich ihre Schlappe abzeichnete. Der Appell an „kanadische Werte“ war das letzte - wenn auch gescheiterte - Aufbäumen eines Premiers, der mit Themen wie Einwanderungsreform, bewaffneten Einsätzen im Ausland und Skepsis gegenüber dem Klimawandel drei Wahlen in Folge gewonnen hatte. Es ist zumindest möglich, dass bei den nächsten Wahl im Jahr 2019 ein strammerer Harper-Nachfolger nach dem Vorbild Donald Trumps antritt.
So weit ist es noch nicht, doch ihre Verzweiflung können einige Politiker schon jetzt nicht mehr verbergen. „An die muslimische Gemeinde, unsere Nachbarn, unsere Mitbürger, die auf unsere Unterstützung und unsere Solidarität setzen: „Wir lieben euch.““, sagt nach dem Anschlag etwa Québecs Bürgermeister Régis Labeaume. Er kämpft mit den Tränen.