Analyse Supereuropäer Juncker wirft Zunder in deutschen Wahlkampf
Straßburg/Berlin (dpa) - Einen Moment lang wurde Jean-Claude Juncker persönlich. Sein ganzes Leben habe er für das europäische Projekt gearbeitet, in guten wie in schlechten Zeiten, erinnerte der EU-Kommissionspräsident im Rund des Straßburger Europaparlaments.
„Ich bin für die Europäische Union durch Dick und Dünn gegangen, und nie habe ich meine Liebe zu Europa verloren.“ Jetzt sei die Chance da für ein besseres Europa - es sei Zeit, den nächsten Schritt zu tun.
Juncker, der Supereuropäer - nach seiner Rede zur Lage der Europäischen Union am Mittwoch dürfte daran niemand mehr Zweifel haben. Doch ist das für seine Kritiker genau das Problem. Kurz vor der Bundestagswahl wirft Juncker mit Vorschlägen zur möglichst raschen Ausweitung der Euro- und der Schengenzone Zunder in den Wahlkampf - und könnte Euroskeptikern auf den letzten Metern noch einmal Auftrieb geben. „Wir haben den Wind in unseren Segeln“, lautete das Motto von Junckers Rede. Das Gefühl könnten nun womöglich auch AfD und Co bekommen.
Die Reaktion im politischen Berlin war vorhersehbar - ein Sturm war es nicht. Als erster meldete sich, da hatte Juncker kaum gesprochen, FDP-Chef Christian Lindner zu Wort. „Herr Juncker verkennt die Lage in den Mitgliedsstaaten der Währungsunion.“ Weil Lindner auch schon einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone gefordert hat, wird in Brüssel einer möglichen Koalition aus Union und FDP mit einiger Sorge entgegen gesehen.
Besonders schroff die Stellungnahme der AfD: In den südeuropäischen Ländern blockiere der Euro Wachstum und schaffe Massenarbeitslosigkeit, erklärte Spitzenkandidatin Alice Weidel. Für Deutschland bedeute die Gemeinschaftswährung „Wohlstandsvernichtung und Haftungsrisiken, welche in die Billionen gehen“. Der frühere AfD-Chef Bernd Lucke, der die Partei ja auf einem eurokritischen Fundament begründet hatte, schrieb auf Twitter: „Toll. Der Euro funktioniert nicht. Also müssen ihn alle einführen.“
Auffallend zurückhaltend die Noch-Koalitionsparteien CDU und SPD. Überrascht von Junckers Vorstoß für eine Euro-Erweiterung schien weder Kanzlerin Angela Merkel noch ihr Herausforderer Martin Schulz. Juncker habe letztlich nur die geltende Rechtslage wiedergegeben - und auf eine Prozess verwiesen, der ohnehin Jahre dauern dürfte.
Europa hat im Bundestagswahlkampf bisher keine Rolle gespielt. SPD und Grüne verweisen in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten allenfalls darauf, dass Exportweltmeister Deutschland der größte Profiteur des Euro sei. Selbst in sozialen Netzwerken hielten sich Kommentare von Euro-Gegnern in Grenzen, die am Mittwoch aber schon sarkastisch auf baldige Rettungspakte für Rumänien und Bulgarien einstimmten.
Bei näherem Hinsehen sind Junckers Vorschläge in der Tat gar nicht so spektakulär - es handelt sich vielmehr um einen überaus kunstvoll austariertes Einerseits-Andererseits. Wochenlang hat der Luxemburger nach Angaben von EU-Diplomaten mit allen EU-Regierungen geredet, eben auch mit der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den er noch am Sonntag eine Stunde am Telefon hatte. Junckers Ideen zeigen eine Kompromisslinie, auf die sich am Ende so oder so ähnlich vielleicht alle 27 bleibenden EU-Länder einlassen könnten.
Die Einführung des Euro in allen EU-Staaten ist ja längst vorgesehen - nur Großbritannien und Dänemark hatten Sonderklauseln ausgehandelt und dürfen außen vor bleiben. Allerdings haben derzeit eben nur 19 von jetzt noch 28 Staaten die gemeinsame Währung. Das liegt an der Ablehnung des Euro in einigen „reichen“ Ländern wie Schweden - aber auch am wirtschaftlichen Gefälle in Europa zwischen Ländern wie Deutschland und Neu-Mitgliedern wie Bulgarien und Rumänien.
Während jeder Däne jährlich knapp 50 000 Euro erwirtschaftet, liegt der Wert für Bulgarien nur bei 6600 und für Rumänien bei 8600 Euro. Schon im Kreis der jetzigen Euroländer ist die Kluft zwischen Nord und Süd aber ein Riesenproblem, wie sich in der Griechenland-Krise zeigte.
All das weiß Juncker, der viel zusätzliches Geld für die ärmeren Länder für nötig hält. Wichtiger aber ist ihm ein politisches Ziel: Brücken schlagen zwischen Ost und West und eine neue Einheit in der EU. Es ist eine klare Absage an die Idee eines „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“, nach der gleichgesinnte EU-Länder in „Kerneuropa“ immer enger zusammenarbeiten - auf die Gefahr hin, dass die Ränder ausfransen. Dort rebellierten die rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn zuletzt immer offener gegen EU-Vorgaben. Juncker will das einfangen, verbunden mit einem strengen Ordnungsruf an Warschau und Budapest.
Auch mit seinen Vorschlägen zur Reform der Eurozone weist Juncker einen Mittelweg, irgendwo zwischen Merkel und Macron. Der junge französische Präsident will den radikalen Umbau, eine Eurozone mit eigenem Finanzminister, Milliarden-Budget und wirtschaftlicher Feuerkraft, auch wenn dafür die EU-Verträge geändert werden müssen. Merkel will die Verträge möglichst gar nicht anpacken. Dass Deutschland den Euro-Rettungsfonds ESM zum Europäischen Währungsfonds mit eigenem Budget ausbauen will, trägt Juncker mit. Doch will er das neue Konstrukt nicht zu stark werden lassen.
„Wir haben den Wind in unseren Segeln“, sagte Juncker. Bevor das EU-Schiff in See sticht, versucht der Luxemburger, die Landebrücke noch einmal herunterzukurbeln, um möglichst alle EU-Mitglieder mitzunehmen. Dass alle sofort einsteigen, ist unwahrscheinlich. Vielmehr dürften Leichtmatrosen und Maschinisten noch heftig aneinandergeraten. Aber Juncker gibt sich auch noch etwas Zeit. Im März 2019 will er seinen Plan für Europa unter Dach und Fach haben.