Winterkorn-Erbe Müller muss VW erneuern
Wolfsburg/Berlin (dpa) - Das riesige Stammwerk in Wolfsburg mit seinen mächtigen Schornsteinen steht noch. Auf dem VW-Hochhaus, dem Hauptquartier des Konzerns mit weltweit über 600 000 Beschäftigten, ragt das Markenlogo in den Himmel.
Doch jenseits dieser Symbole der Stärke liegt die Volkswagen-Welt ziemlich in Trümmern. Nur eine Woche „Dieselgate“ hat gereicht, um einen deutschen Mythos zu beschädigen.
Matthias Müller soll die Wende bringen. Alle Hoffnungen ruhen auf dem am Freitag zum neuen Vorstandschef berufenen Manager, der bisher die Tochter Porsche lenkte. Der 62-Jährige erbt eine Krise, die sogar den lange als unantastbar geltenden Martin Winterkorn zu Fall brachte.
Selbst für VW-Verhältnisse sprengt der Skandal jede Dimension. Und die genauen Folgen sind immer noch nicht abzusehen. Wer ist dafür verantwortlich, dass Mogel-Software in den USA eingebaut wurde? Wer wusste davon? Was kostet VW das Ganze?
Müller weiß, dass er einen schweren Job antritt. Er „übernehme die Aufgabe in Zeiten, in denen VW vor nicht gekannten Herausforderungen steht“. Und: „So ein Skandal darf sich nie wiederholen.“
Die Geschichte des Weltkonzerns ist reich an Affären und Konflikten: die existenzbedrohende Krise Anfang der 90er Jahre, der Skandal um Schmiergelder und Lustreisen auf Firmenkosten, die Übernahmeschlacht mit Porsche, der Machtkampf Winterkorns mit dem langjährigen Mentor und Chefaufseher Ferdinand Piëch im Frühjahr.
Aber so hart wie durch das „moralische Desaster“ der Abgas-Affäre (Interims-Aufsichtsratschef Berthold Huber) geriet der Konzern noch nie aus der Bahn. Finanziell sind die Schäden bereits jetzt gewaltig. Aus den USA kommen immer neue Berichte zu Sammelklagen enttäuschter Kunden, an zwei schwarzen Tagen für VW wurden an der Börse Milliarden verbrannt. Weil VW ein Zugpferd der deutschen Wirtschaft ist, sehen manche sogar das Label „Made in Germany“ in Gefahr.
Mindestens 2,8 Millionen Fahrzeuge hierzulande sind nach Angaben von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) betroffen. Weltweit geht VW von elf Millionen Wagen aus der ganzen Konzernfamilie aus, allein für die Hauptmarke Volkswagen Pkw von fünf Millionen Autos.
Zudem hat der Skandal die Strukturen des Autoriesen infrage gestellt. Das streng hierarchische System Piëch/Winterkorn ist endgültig passé. Schon Winterkorn hatte nach dem Machtkampf im Frühjahr einen Umbau angestoßen. Das Motto lautet: Dezentralisierung.
Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh, einer der VW-Kurfürsten, forderte einen „grundlegenden Kulturwandel“. Man müsse auch mit den Chefs „um den besten Weg streiten“ dürfen. Es sind Worte, die ahnen lassen, welch Kommando-Ton bisher bei VW geherrscht haben muss.
Aber nicht nur bei den Wolfsburgern dürfte das Diesel-Drama einen Bergrutsch auslösen. Die deutschen Autobauer verdienen ihr Geld generell mit dicken, PS-starken Fahrzeugen. Audi, Daimler, BMW & Co. sind Weltmarktführer in der Oberklasse - und stolz darauf.
Die Branche steht indes in einem historischen Umbruch. Die digitale Revolution bringt das Internet ins Auto. Das „Gold“ der Zukunft sind Daten im Auto. Liefern die Hersteller bald nur die Hardware dafür?
Am Vorabend der Automesse IAA hatte Winterkorn noch angekündigt, VW werde sich „neu erfinden“. Klassische Ingenieurskünste seien nicht genug. Es gehe um neue Wege, zum Beispiel alternative Antriebe.
Umweltverbänden gehen die Vorgaben schon beim Spritsparen nicht weit genug. Und in der Tat ist die Autolobby mächtig. In Berlin zieht der Branchenverband VDA seine Fäden, in Brüssel der europäische Verband Acea: einflussreiche Interessen, die Branche beschäftigt Millionen.
Nach einem Bericht des britischen „Guardian“ sollen die Regierungen einzelner Staaten sogar versucht haben, die EU-Kommission zum Offenhalten von Schlupflöchern bei Abgastests zu drängen. Auch der Wechsel von Politikern in die Industrie und Vorwürfe, die Branche schreibe ihre Gesetze mit, sorgen immer wieder für Kritik.
Führt der VW-Abgas-Skandal nun zu einer Wende - hin zu wirklich sparsamen, sauberen Autos? Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter machte seinem Ärger in einem Brief an VDA-Präsident Matthias Wissmann Luft: Es sei „an der Zeit, dass die Hersteller mit einer Selbsterklärung reinen Tisch machen und ehrliche Testergebnisse vorlegen“. Auch Greenpeace moniert: „Die Bevölkerung kann sich nicht auf Angaben der Autoindustrie verlassen.“
Wissmann seinerseits warnte davor, nun alle Unternehmen pauschal zu attackieren: „Es handelt sich nicht um ein generelles Diesel-Problem.“ Müller gibt sich zum Einstand an der Konzern-Spitze jedenfalls kämpferisch: „Wir können und wir werden diese Krise bewältigen und VW noch stärker machen.“