Merkel kreidet Euro-Sündern frühe Verrentung an
Berlin/Athen (dpa) - Europa legt den hoch verschuldeten Griechen die Daumenschrauben an: Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte längere Lebensarbeitszeiten in den Schuldenstaaten Europas, Finanzminister Wolfgang Schäuble lehnte eine Transferunion zulasten starker Mitgliedstaaten ab.
Künftig sollten auch private Gläubiger in die Haftung genommen werden. Gleichzeitig sprachen sich Volkswirte im Falle Griechenlands für radikale Schritte aus.
Merkel mahnte im westfälischen Meschede, es gehe nicht nur darum, keine Schulden zu machen. „Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig.“ Die CDU-Vorsitzende kritisierte auch die Urlaubsregelungen in den betreffenden Ländern. „Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig.“
Mit dieser Mahnung beruft sich Merkel nach Angaben des stellvertretenden Regierungssprechers Christoph Steegmans auf einen EU-Ratsbeschluss von Ende März. Alle EU-Regierungschefs hätten sich bei ihrem Frühjahrstreffen darauf verständigt, zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen ihre Politik besser abzustimmen.
Die Kritik der Bundeskanzlerin hat im pleitebedrohten Portugal Empörung und Proteste ausgelöst. „Das ist Kolonialismus pur“, schimpfte etwa der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CGTP, Manuel Carvalho da Silva, der „jegliche Solidarität“ vermisst. Zustimmung erntete Merkel nicht einmal beim Chef der liberal orientierten Partei der Sozialdemokratie (PSD), Pedro Passos Coelho. Eine Vereinheitlichung der sozialen Systeme sei aufgrund der vielen Unterschiede zwischen den EU-Ländern unmöglich, sagte er am Mittwoch. in Lissabon.
Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) schickte eine Warnung an die Adresse der Regierung in Athen: Deren Programm zur Rettung der Finanzen könne „aus der Spur geraten“, sollte das Land seine Sparbemühungen nicht verstärken. Nach Einschätzung des Chefvolkswirts der Deutschen Bank, Thomas Mayer, reicht die sich abzeichnende „sanfte“ Umschuldung Griechenlands, bei der die Laufzeiten für die bestehenden Hilfskredite gestreckt würden, bei weitem nicht aus. „Wir brauchen einen Schuldenschnitt“, sagte er am Mittwoch bei einer Wirtschaftstagung der EU-Kommission in Brüssel. Er geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Verbindlichkeiten Griechenlands gestrichen werden muss, damit Athen wieder auf die Füße kommt.
Griechenland war vor einem Jahr das erste Euroland, das mit Milliardenkrediten vor der Pleite gerettet werden musste. Die Risikoprämien für langfristige Anleihen Athens liegen heute aber sogar deutlich höher als vor einem Jahr. Vielen erscheint Griechenland zunehmend als ein „Fass ohne Boden“.
Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) warnte bei der Wirtschaftstagung: „Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde nicht dafür geschaffen, ein Umverteilungssystem von reichen zu armen Mitgliedstaaten zu sein.“ Er warb für eine Beteiligung des Privatsektors, um künftig Staatspleiten im gemeinsamen Währungsgebiet zu verhindern. Es könne nicht sein, dass alle Lasten Steuerzahlern aufgebürdet würden.
Auch über ein neues Rettungspaket für Schuldensünder Griechenland wird in der EU debattiert. EU-Währungskommissar Olli Rehn pochte darauf, dass die Regierung in Athen vor Entscheidungen der Europartner neue Reformen und Privatisierungen ankündigen müsse. Damit sei in den kommenden Tagen zu rechnen.
Das Bundesfinanzministerium wies derweil Spekulationen über drohende Mehrkosten für das künftige Euro-Rettungspaket ESM zurück. „Die Höchsthaftung wird klar geregelt“, verlautete aus Kreisen des Ministeriums. Diese Höchsthaftung für den deutschen Anteil am ESM von insgesamt rund 190 Milliarden Euro werde unter allen Umständen eingehalten. Hintergrund sind Befürchtungen, dass die fast 22 Milliarden Euro Bareinlage Deutschlands für den ESM nicht ausreichen und dann notfalls weitere Finanzspritzen an den Notfonds fällig werden.
Steegmans betonte, die Mahnung Merkels sei nicht „irgendein Einfall“ der Kanzlerin. SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisierte die Äußerungen dennoch. „Frau Merkel setzt wieder einmal auf Populismus und Stimmungen statt auf sachliche Argumente“, sagte er zu „Spiegel Online“. „Damit schürt sie antieuropäische Ressentiments, statt endlich Verantwortung für Europa als Ganzes zu übernehmen.“ Er warf Merkel vor, auf dem Rücken der griechischen Bevölkerung Stimmung zu machen. Auch die Grünen griffen die Kanzlerin an: Weder helfe Merkels Kritik Ländern wie Griechenland oder Portugal noch spiegele sie die Wirklichkeit wider, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir zu „Spiegel Online“.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) unterstützte die Forderung Merkels dagegen: „Es ist kaum erklärbar, dass bei uns die Menschen mit 67 in Rente gehen sollen und gleichzeitig Länder um Hilfe bitten, aber selbst entsprechenden Anpassungen beim Renteneintrittsalter bislang nicht vornehmen möchten.“
Medienberichten zufolge gab es im Athener Finanzministerium mehrere Krisensitzungen. Es werde intensiv daran gearbeitet, eine Liste der staatlich kontrollierten Unternehmen und staatlicher Immobilien auszuarbeiten, die privatisiert oder verkauft werden sollen. Damit sollen bis Ende kommenden Jahres 15 Milliarden Euro und bis 2015 weitere 35 Milliarden Euro in die Staatskassen fließen.
Bald könnten nach Worten des griechischen Finanzministers Giorgos Papakonstantinou erstmals Staatsbedienstete entlassen werden, um den Haushalt zu entlasten. Für den Schuldensünder Griechenland seien ein Jahr nach Einführung des Sparprogramms viele Fragen offen. In den kommenden Jahren soll die Zahl der Staatsbediensteten um 150 000 verringert werden.