Rückblick2015: Das „Annus horribilis“ von VW
Wolfsburg (dpa) - Millionen von VW-Kunden bekommen bald Post. Im Januar will Volkswagen im „Dieselgate“ eine gigantische Rückrufaktion starten.
In den VW-Vertragswerkstätten dürfte es zu einem großen Andrang kommen. Die Motoren mit manipulierten Werten zum Stickoxid-Ausstoß sollen mit Software-Updates und gegebenenfalls noch einem kleinen weiteren Umbau sauberer werden. Immerhin: für die Kunden soll das Ganze nichts kosten. Ansonsten aber hat VW seinen Kunden, Mitarbeitern und Investoren im vergangenen Jahr ein „Annus horribilis“ beschert - ein schreckliches Jahr.
Der weltweite Abgas-Skandal stürzte VW in die schwerste Krise der Konzerngeschichte. Der Mythos des Erbauers von „Käfer“ und „Golf“ ist schwer beschädigt. Dabei war das Jahr bereits vor „Dieselgate“ nicht arm an Krisen.
Im Frühjahr bricht bei VW ein erbitterter Machtkampf aus. Im Mittelpunkt: Vorstandschef Martin Winterkorn und Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch. Lange Zeit führen sie VW unangefochten, streng zentralistisch und hierarchisch. Doch dann setzt sich Piëch von Winterkorn ab. „Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“, sagt er am 10. April dem „Spiegel“, und löst damit ein mittleres Erdbeben in Wolfsburg aus. Mit der Expansion des Konzerns sind auch hausgemachte Probleme gewachsen. Dazu zählt neben der Ertragsschwäche der Kernmarke VW vor allem die Misere auf dem US-Markt. Piëch traut Winterkorn offenbar nicht mehr zu, die Probleme zu lösen.
Bislang hat „der Alte“ noch jeden Machtkampf für sich entschieden. Dieses Mal aber zieht er den kürzeren. Eine Allianz aus dem Land Niedersachsen, dem mächtigen Betriebsrat und der Familie Porsche stützt Winterkorn. Dem 78-jährigen Piëch bleibt nur der Rücktritt. Winterkorn sitzt danach fest im Sessel, der Vertrag des 68-Jährigen soll sogar verlängert werden.
Doch Mitte September platzt die Bombe. US-Behörden werfen VW vor, massiv gegen Klimaschutzregeln verstoßen zu haben. Der Autobauer soll mit einer illegalen Software, einem „Defeat Device“, Abgastests manipuliert haben, um die Grenzwerte beim Ausstoß des gesundheitsschädlichen Stickoxid (NOx) einzuhalten. Noch am selben Wochenende gibt Volkswagen die Vorwürfe zu. „Dieselgate“ ist geboren. In elf Millionen Fahrzeugen weltweit ist die berüchtigte Software eingebaut. Der Aktienkurs geht auf Talfahrt.
Wie konnte das passieren? In den Jahren 2005 und 2006 hat VW massive Absatzprobleme in den USA. Erzrivale Toyota mit seiner Hybridtechnik ist auf dem US-Markt viel erfolgreicher. VW will auf den Diesel setzen. Die Wolfsburger Vorgabe lautet: Sauber, aber nicht zu teuer. Doch das ist technisch für die Ingenieure nicht zu schaffen. Die USA haben strengere Stickoxid-Grenzwerte als Europa. Die Lösung ist am Ende verhängnisvoll: Dank einer Manipulations-Software können die Autos die Grenzwerte zumindest auf dem Prüfstand einhalten.
Winterkorn muss zurücktreten, will von den Machenschaften aber nichts gewusst haben. Sein Nachfolger wird Porsche-Chef Matthias Müller. Mehrere Manager und Ingenieure werden beurlaubt. Doch die großen Bosse wollen von nichts gewusst haben. Eine „kleine Gruppe“ von Managern aus Motoren- und Entwicklungsabteilungen soll schuld gewesen sein.
Um künftig ähnliche Skandale zu verhindern, soll es nun einen „Kulturwandel“ geben, eine neue Denkweise. „Wir brauchen keine Ja-Sager“, wünscht sich der 62-jährige Müller. Die Zukunft soll den „Neugierigen, den Unangepassten, den Pionieren“ gehören. Marken und Regionen sollen mehr Verantwortung bekommen. Viele Beobachter aber sind skeptisch, ob der VW-Kulturwandel wirklich gelingt - nach einer langen Zeit in einem „Klima der Angst“, von dem viel die Rede ist.
Und „Dieselgate“ ist noch längst nicht ausgestanden. Die Ermittlungen etwa der Staatsanwaltschaft gehen weiter. Nach wie vor ist unklar, wie teuer der Skandal wird. 6,7 Milliarden Euro hat der Konzern bisher zurückgelegt - für die Rückrufe. Daneben drohen aber hohe Kosten wegen Strafzahlungen und Klagen.
Zumindest an einer Großbaustelle kann VW kurz vor Jahresende Entwarnung geben: Anders als ursprünglich befürchtet sind nicht rund 800 000, sondern nur maximal 36 000 Fahrzeuge von falschen Werten beim Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxid (CO2) und damit falschen Spritverbrauchs-Daten betroffen.
Dennoch muss VW sparen. Die Investitionen wurden bereits um eine Milliarde Euro pro Jahr gekürzt. Der große Sparhammer aber könnte noch folgen - dann nämlich, wenn die Kunden VW massenhaft den Rücken kehren, was bisher nicht der Fall ist. „Natürlich wird uns auch im nächsten Jahr der Skandal um die Abgaswerte noch intensiv beschäftigen“, sagt Niedersachsens Regierungschef und VW-Aufsichtsrat Stephan Weil.