Digel sorgt sich um den deutschen Spitzensport
London (dpa) - Helmut Digel, von 1993 bis 2002 Vizepräsident des früheren Nationalen Olympischen Komitees, sieht Handlungsbedarf im deutschen Spitzensport. Deutschland habe im Weltvergleich immer mehr an Konkurrenzfähigkeit verloren.
Deshalb fordert der heutige Spitzenfunktionär des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF) in einem Interview der Nachrichtenagentur dpa bei den Olympischen Spielen in London Mut zu Reformen - auch für die Leichtathletik.
Der deutsche Sport verliert in der Weltspitze an Boden. Woran liegt das?
Helmut Digel: „Wenn man die Entwicklung der Topnationen der Welt über viele Jahre verfolgt und dabei Platz eins bis acht zum Maßstab der Bewertung nimmt, muss man erkennen, dass Deutschland in Bezug auf die Nationenwertung von Jahr zu Jahr Punkte verloren hat. Man sollte die Leistung nicht von den Goldmedaillen her beurteilen.“
Wie sieht es in anderen Ländern aus - wie Großbritannien?
Digel: „Da kann man erkennen, dass einige Nationen seit zehn Jahren oder mehr die systematischen Verluste der Vergangenheit abgebaut haben und zurück zur Weltspitze finden. Andere Nationen haben einen schleichenden Niedergang aufzuweisen und dazu gehört Deutschland.“
In welchen Bereichen sind die Ursachen zu suchen?
Digel: „Großbritannien war vor und nach Atlanta 1996 weit abgeschlagen und im Land wurde von einer nationalen Katastrophe gesprochen. Das hat dazu geführt, dass man den Spitzensport mit aller Radikalität auf den Prüfstand gestellt, entschiedene Reformen durchgesetzt, neue Finanzierungsquellen erschlossen und den Weg Richtung 2012 professionell geplant hat. Ähnliches können wir erkennen, wenn wir Frankreich oder Australien sehen.“
Wie kann es mit Deutschland wieder vorangehen?
Digel: „Das, was um Deutschland herum stattfindet, ist eine Sportpolitik, wo Wissenschaft, Fachpersonal und finanzielle Investitionen eine große Rolle spielen. Da gibt es erheblichen Reformbedarf in Deutschland.“
Erhält der deutsche Spitzensport zu wenig Fördergelder vom Bund?
Digel: „Ich glaube, dass in Deutschland genügend Geld zur Verfügung gestellt wird. Doch wir haben mittlerweile eine Bürokratie im Hochleistungssport, die sehr kostenintensiv ist, aber nicht sehr effektiv. Es mangelt an Effizienz. Es mangelt auch an der systematischen Steuerung der Leistungsentwicklung.“
Wie sieht es mit der Leistungsdiagnostik aus?
Digel: „In den Disziplinen, in denen sich die Athleten und Trainer in die Karten schauen und ihre Leistung steuern lassen, da haben wir Erfolge aufzuweisen. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir im Kanu, Kajak und Rudern Erfolge haben.“
Was gibt es für weitere Defizite?
Digel: „Wir brauchen ein optimales Wissensmanagement. Die Trainer müssen täglich mit der Frage konfrontiert werden, wie machen die anderen es, was können wir besser machen. Dazu gehört eine Coaching-Plattform. Der Skiverband hat es vorgemacht mit einem internen Informationsnetz, wo sich Skitrainer austauschen und ihre Analysen wöchentlich auf den Prüfstand stellen. Da sind wir in einigen olympischen Disziplinen noch weit von entfernt.“
Es muss also grundsätzlich etwas verändert werden?
Digel: „Man braucht Mut zu Reformen und Mut zu Neuerungen. Man darf nicht so tun, als wenn man alles besser weiß, weil man über viele Jahre erfolgreich war.“
In Deutschland wird über eine neue Olympia-Bewerbung diskutiert. Könnte die Ausrichtung einen Schub für den deutschen Sport bringen?
Digel: „Für Deutschland wären Olympische Spiele enorm wichtig für die Sportentwicklung. Sommerspiele wären ein idealer Impuls, um zu entscheidenden Veränderungen zu kommen.
80 000 Zuschauer am Vormittag bei der Leichtathletik. Das gibt es nur bei Olympia, oder?
Digel: „Das ist das besondere Phänomen der Olympischen Spiele, dass die Leichtathletik 80 000 Zuschauer bei Vorkämpfen binden kann. Das ist in keiner anderen Sportart möglich. Dabei finden im Grunde genommen nur nachgeordnete Entscheidungen statt. Man kann davon ausgehen, dass Leichtathletik die Sportart Nummer eins ist, wenn sie in einem Land mit großer Sportkultur organisiert wird. Das gilt für England, für Deutschland und nur noch für wenige andere Länder.“
Bei einer Weltmeisterschaft wird das wieder schwieriger?
Digel: „Das Zuschauerphänomen von London ist für die Leichtathletik irreführend, das ist nur bei Olympischen Spielen möglich, weil es viele Leute gibt, die wenigstens einmal dabei sein wollen. Wir werden 2013 in Moskau schnell sehen, wo wir stehen, wenn wir eine WM ausrichten. Mit dem gleichen Vormittagsprogramm können wir bei einer WM nicht einmal die Hälfte des Stadions füllen. Den Olympia-Erfolg darf man nicht mit dem der sonstigen internationalen Leichtathletik vergleichen. Deshalb muss sie attraktiver gestaltet werden.“
Was tun?
Digel: „Ich bin davon überzeugt, dass wir eine Programmreform benötigen. Sicher wird es nie zu einer Programmrevolution kommen, wie es im Wintersport der Fall war. Dazu ist die Sportart zu konservativ und die Gremien handeln sehr langsam. Es ist deshalb wichtig, dass man die richtigen Änderungen schafft. Die Fehlstartregel ist so eine. Die IAAF hat zehn Jahre gebraucht, um das durchzusetzen. Wir müssen über den Katalog der 47 Disziplinen nachdenken. Da darf man nichts mehr hinzufügen, sondern man müsste ihn kürzen.“
Die technische Disziplinen stehen meistens im Schatten der Läufe...
Digel: „Wir sind sehr fokussiert auf die Läufe, doch auch da gibt es ein Reformproblem. Es stellt sich die Frage, ob man im Gehen die Wettbewerbe auf je einen reduziert. Auch eine der Langstrecken könnte man auf den Prüfstand stellen. Es geht darum, dass das Programm dem Zuschauerinteresse näher kommt.“