Analyse: Facebooks Lebensarchiv startet ohne Proteste
Berlin (dpa) - Vom ersten Kuss bis zur Hochzeit. Vom Knochenbruch bis zum Verlust eines geliebten Menschen. Vom Führerschein bis zum neuen Job. Von den Lieblingssongs bis zu Leib- und Magen-Gerichten: Facebook hat am Mittwoch weltweit seine Online-Zeitliste aktiviert.
Das Netzwerk will damit zum Geschmacksbarometer und zur Lebenschronik werden. Und im Gegensatz zu vielen anderen Facebook-Projekten gibt es sogar vom zuständigen Datenschutzbeauftragten keine Proteste.
Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat eine Mission: Er glaubt, dass die Menschen immer mehr aus ihren Leben mitteilen wollen. Seine Plattform soll zur Kommunikationszentrale des Internets werden, die jeden Tag Abermillionen von Statusmeldungen und Bildern, Kommentaren und „Gefällt mir“-Bekundungen umschlägt.
Die neue „Chronik“, wie die Zeitleiste in Deutschland heißt, ist Teil dieses Masterplans. Bislang war Facebook in der Gegenwart verhaftet, im Profil verschwanden Meldungen nach einer Zeit leicht aus dem Blick. Nun erleichtert das Netzwerk mit einer magazinartigen Zeitleiste, auch die Vergangenheit zu präsentieren. Was in ihrem Leben wichtig oder unwichtig ist, legen Nutzer selbst fest. Facebook bastelt das Resultat hübsch zusammen.
Damit nicht genug: Hinzu kommt eine neue Art von Anwendungen. Über diese Programme von Anbietern wie Spotify oder der Zeitung „Guardian“ können Nutzer ihren Freunden in Echtzeit mitteilen, was sie gerade hören oder lesen, wo sie joggen oder auf Reisen sind - sofern sie dem „frictionless sharing“ - Teilen ohne Hindernisse - zugestimmt haben. Die Erklärung des Unternehmens klingt da fast wie eine Untertreibung: „Mit der Chronik können Facebook-Nutzer individueller als bisher zeigen, wer sie sind.“
Das Ziel ist klar: Wer Zeit und Mühe in seine Lebenschronik bei Facebook investiert hat, wird das Online-Netzwerk so schnell nicht wieder verlassen. Ob die Informationen als Schmiermittel für die Werbemaschine dienen werden, um den Facebook-Anwendern auf sie persönlich zugeschnittene Anzeigen zu präsentieren, steht dagegen nach Angaben von Facebook nicht fest. Derzeit sei „nichts in der Pipeline“.
Bei der Einführung neuer Funktionen hatte sich Facebook in der Vergangenheit häufig wenig um Datenschutzfragen geschert. Das ist dieses Mal auffällig anders. Facebook war zuletzt auch in den USA bei Datenschützern und Politikern unter Druck geraten.
Nun stellen die Datenschützer zufrieden fest, dass die Freigaben für bereits hochgeladene Inhalte bestehenbleiben, so dass keine unliebsamen Überraschungen drohen. Ein Protokoll schafft Transparenz über frühere Aktivitäten. Und wer bei der Zeitleiste ein mulmiges Gefühl hat, kann die Sichtbarkeit älterer Einträge auf einen Schlag beschränken. „Jeder Nutzer hat absolute Kontrolle über die Inhalte in seiner Chronik und bestimmt selbst, wer was sehen kann“, betont Facebook.
Tatsächlich eckt das Unternehmen dieses Mal offenbar deutlich weniger an als etwa bei der Einführung seiner immer noch umstrittenen Gesichtserkennung. Der Hamburger Datenschützer Johannes Caspar lobt die Einführung der Chronik per „Opt-in“ - also nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Nutzer. Diese Wahlmöglichkeit müsse auf Dauer bestehenbleiben. Auch die siebentägige Übergangszeit bei der Freischaltung der Chronik hält Caspar für sinnvoll. Ein weiterer Pluspunkt: Facebook hat die für das Unternehmen zuständigen Datenschützer in der Hansestadt vorab über die Neuerung informiert.
Bedenken lösen nicht die von Facebook gewählten Voreinstellungen aus - sondern das, was der soziale Druck auslösen könnte. „Den Nutzern wird nahegelegt, viel von sich preiszugeben, vom Babyfoto bis hin zu intimen Dingen wie etwa der Genesung von einer Krankheit“, sagt Marit Hansen vom Unabhängigen Datenschutzzentrum Schleswig-Holstein in Kiel. „Jeder kann hier sein Leben in allen Details selbst inszenieren“, sagt Caspar. „Damit werden die Datenmengen, die von den Nutzern in Umlauf gebracht werden, deutlich zunehmen.“
Was, wenn eine technische Panne Fotos oder Kommentare preisgibt, die nur ein paar Freunde sehen sollten? Dass so etwas passieren kann, hat Visionär Zuckerberg kürzlich am eigenen Leib erlebt: Einige seiner privaten Fotos waren kurzzeitig für alle Welt zu sehen - und sind nun an anderer Stelle im Netz zu finden.