Digitale Enthaltsamkeit - Pausen vom Internet tun gut
Berlin (dpa/tmn) - Das Internet befriedigt die menschlichen Bedürfnisse nach Information, Unterhaltung und Nähe zu anderen Menschen. Klingt perfekt. Doch seiner Gesundheit zuliebe sollte man sich auch Auszeiten von der digitalen Welt gönnen.
Immer mehr durchdringt die digitale Welt die reale und fesselt unsere Aufmerksamkeit. Schon jeder Zweite hierzulande hat nach Zahlen des IT-Verbandes Bitkom sein Smartphone immer dabei und damit auch Zugriff aufs Internet. Ein Drittel der Deutschen geht in jeder freien Minute online. Vier von fünf Internetnutzern sind in mindestens einem sozialen Netzwerk angemeldet und jeder fünfte Arbeitnehmer nutzt ein Dienst-Smartphone seines Arbeitgebers als mobiles Büro.
„Das Internet befriedigt ein menschliches Bedürfnis nach Bindung und Bezug“, erklärt Sabria David die Anziehungskraft des Internet. „Es hilft, Distanzen zu überwinden und lässt Gemeinschaft entstehen.“ Zwar sei das Netz ein Schriftmedium, funktioniere aber nach den Regeln der Mündlichkeit. „Im Internet stehen die Menschen wie in einem Gespräch zusammen“, beschreibt die Leiterin des Slow Media Instituts in Bonn den Effekt.
Dem Sog, der dadurch entsteht, muss man sich aber auch entziehen dürfen. „Unsere körperliche Organisation ist auf den Wechsel von Spannung und Entspannung angelegt“, sagt David. „Wir brauchen Pausen.“ Das Digitale erfordere deshalb das Elernen neuer Kulturtechniken. Beispiel E-Mail: Man dürfe nicht der Versuchung erliegen, jede Mail gleich zu öffnen, zu lesen und zu bearbeiten wie einen Brief, der nur einmal täglich kommt. „Denn die Mails treffen ja ständig ein“, sagt David. Man müsse sich häufiger sagen: „Ich könnte sie öffnen, aber ich tue es nicht.“ Sabria David sieht also kein Problem in der Technik selbst, sondern nur im Umgang mit der Technik. Dieser müsse verantwortlicher und bewusster werden.
Teilweise oder ganze digitale Enthaltsamkeit kann von Programmen unterstützt werden. Sie heißen etwa Breath, Time Out oder Workrave und zeigen dem Nutzer an, wann er eine Pause bei der Bildschirmarbeit einlegen sollte. Das soll auch vor Mausarm (Repetitive Strain Injury) und müden Augen (Computer Vision Syndrome) schützen.
Die App Offtime dagegen schränkt für selbst gewählte Zeiträume Anrufe, Benachrichtigungen, E-Mails und SMS ein. Auch Anwendungen, die der Nutzer als Versuchung empfindet, kann die App blockieren. Bei der Arbeit lassen sich Kontaktaufnahmen von Freunden und Familie ausfiltern, in der Freizeit Ansprachen von Kollegenseite.
Die Arbeitspsychologin Annekatrin Hoppe von der Humboldt-Universität in Berlin hat untersucht, wie Offtime wirkt. Dafür wurde das Verhalten von 49 Probanden über zwei Wochen analysiert. In der ersten Woche wurde die normale Smartphone-Nutzung erfasst, in Woche zwei nutzten die Testpersonen Offtime mindestens zwei Stunden am Tag. „Tatsächlich konnten die Versuchspersonen besser abschalten und waren am nächsten Tag engagierter bei der Arbeit“, sagt Hoppe.
Generell sei es gut, in der Freizeit den Bezug zur Arbeit zu reduzieren, sagt die Psychologin. Eine extrem intensive Smartphonenutzung gehe mit Stress einher. Das zeige etwa die Untersuchung der beiden niederländischen Psychologen Daantje Derk und Arnold Bakke. Sie stellten fest, dass sich Angestellte heute verpflichtet fühlen, auch in der Freizeit auf berufliche Nachrichten zu antworten. „Das Smartphone sorgt dafür, dass die Arbeit mit nach Hause genommen wird.“ Diese Vermischung gehe mit körperlichen und psychischen Belastungen, Erschöpfung und schlechtem Schlaf einher.
„Das Ziel muss sein, mit dem Smartphone bewusster umzugehen“, sagt Annekatrin Hoppe. „In der Freizeit sollte es okay sein, nicht immer erreichbar zu sein.“ Dazu gehöre aber auch eine Unternehmenskultur, die Arbeitnehmern Auszeiten zugesteht.
Genau so eine Kultur versucht Sabria David zu etablieren, wenn sie als Beraterin in Unternehmen geht. „Vorgesetzte haben eine Vorbildrolle. Sie müssen wissen, was es auslöst, wenn sie sonntags eine E-Mail schicken.“ Zum digitalen Arbeitsschutz gehörten nicht nur klare Regeln zur Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit, sondern auch Maßnahmen zum Eindämmen der E-Mail-Flut.
Die Verantwortung liegt aber auch beim Einzelnen. David rät zu einer reflektierten statt zu einer reflexhaften Nutzung digitaler Medien. Dazu gehöre, sich dem Strom der Nachrichten bewusst zu entziehen und das Verpassen zu lernen. „Viele Menschen beschleicht ein Gefühl des Versagens, wenn sie nicht alles mitbekommen“, sagt die Beraterin. Vollständigkeit sei aber ein falsches, weil unerreichbares Ziel. Wenn es um Mitteilungen geht lautet ihr Tipp: „Erst denken, dann senden.“ Und auch den einen oder anderen Kontakt abzulehnen, gehöre dazu.