Dünne Luft für „Onkel“ Assange
London (dpa) - Die Kinder seines Wirtsehepaares betrachten ihn schon als Onkel - seit fast einem Jahr lebt Julian Assange inzwischen auf dem Gelände im englischen Norfolk bei der Familie seines Freundes Vaughan Smith.
Und wenn es nach dem Gast geht, könnte der Aufenthalt auf dem ausladenden Anwesen im englischen Landhausstil noch ein paar Monate dauern. Doch für „Onkel“ Assange wird die Luft allmählich dünner. Am Mittwoch verlor der 40 Jahre alte Gründer der Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks zum zweiten Mal vor Gericht im Kampf gegen seine Auslieferung von Großbritannien nach Schweden.
Jetzt bleibt nur noch der Gang zum Supreme Court, dem höchsten britischen Gericht. Nimmt dieses die Berufung an, könnte das bizarre Verfahren um ungeklärte Sex-Vorwürfe in Schweden noch Monate, wenn nicht ein ganzes Jahr dauern. Lässt die höchste Instanz Assange abblitzen, dann wird er schon in wenigen Wochen in einem Flugzeug in Richtung Skandinavien sitzen. Was danach passiert, ist völlig offen. Rechtsexperten halten es nicht einmal für ausgeschlossen, dass die Vorwürfe in Schweden gar nicht für eine Haftstrafe ausreichen. Andere halten auch mehrere Jahre Gefängnis für möglich.
Die schwedische Justiz will Assange wegen Vergewaltigung haben, weil er mit zwei Frauen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte - obwohl die nach eigener Darstellung die Benutzung eines Kondoms verlangt hatten. Das kann in Schweden als Vergewaltigung gedeutet werden. Assange bestreitet fast alles.
Er habe zwar Verständnis, dass die beiden Damen das Verhalten seines Mandanten „als ungebührlich, unhöflich oder sogar als an die Grenzen dessen stoßend empfunden hätten, was ihnen noch angenehm sei“, hatte Assange-Verteidiger Ben Emmerson schon bei der Anhörung im Juli gesagt. Aber es sei nun einmal einvernehmlicher Sex gewesen.
Rein rechtlich ist Assange im Moment ein freier Mann. Eine ganze Reihe von Unterstützern des Internet-Aktivisten hatte im vergangenen Dezember eine hohe Kaution von 240 000 Pfund (damals 288 000) zusammengesammelt und Assange damit die weitere Haft erspart. Er muss zwar eine elektronische Fußfessel tragen und sich täglich zu einer bestimmten Zeit bei der Polizei melden - grundsätzlich kann er sich aber frei in Großbritannien bewegen.
Praktisch aber ist das Spielen mit den Kindern der Familie Smith nicht gerade das, wofür Julian Assange einmal angetreten ist. Seine Plattform Wikileaks ist im Sumpf von internen und externen Streitigkeiten versunken, auch fehlt das Geld. Zuletzt hatte Wikileaks diplomatische Papiere sogar unredigiert - also mit Klarnamen der Betroffenen und Informanten - veröffentlicht. Kritiker warfen Assange vor, bewusst den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen.
Seine Autobiografie, vor Monaten mit viel Tamtam angekündigt, geriet zur Posse. Der Verlag entschied sich schließlich, das Buch zu veröffentlichen, obwohl Assange seinen eigenen Lebenslauf nicht autorisieren wollte. In Deutschland fand sich nicht einmal ein Verleger für das Werk, das Kritiker als langweilig bezeichneten.
Assange streitet mit allen, denen er über den Weg läuft - das ist das Bild, das die Welt nach einem Jahr in Großbritannien von dem einst als aufrechten Rebellen gefeierten Ex-Hacker gewonnen hat. Seine Furcht ist, dass einer Auslieferung nach Schweden die Abschiebung zum Erzfeind in die USA folgen könnte, wo ihm sogar die Todesstrafe drohen könne.
Als Enthüller, da sind sich die meisten Analysten einig, ist Assange schon jetzt praktisch tot. Kaum ein Journalist der großen westlichen Medien scheint sich überhaupt noch die Mühe zu machen, die von Wikileaks verbreiteten Depeschen überhaupt im Original zu lesen. Assange bezeichnet Qualitätszeitungen wie die „New York Times“ oder den „Guardian“, die er einst als Sprachrohre auswählte, inzwischen als falsche Propheten. Dagegen lobt er die türkische Presse. Sie habe sich für nichts zu schämen.