„Post Secret“ teilt Geheimnisse mit aller Welt
Tübingen (dpa) - Verschmähte Liebe, Rachegelüste oder düstere Gedanken - in dem Blog „Post Secret“ geben Tausende Menschen ihre Geheimnisse auf Postkarten preis. Freiwillig, trotz wachsender Angst um die Privatsphäre und vor Datenklau.
Die Bedingung: Anonymität.
Sechs unscheinbare Kisten, ordentlich mit Jahreszahlen beschriftet. Darin lagern die Geheimnisse Hunderter Menschen, von Liebeserklärungen bis zu dunklen Gedanken. Seit sechs Jahren sammelt der Tübinger Sebastian Schultheiß die intimen Bekenntnisse anonym auf Postkarten und veröffentlicht sie im Internet. Dort, wo jeden Tag Tausende Kommentare, Tweets und Selfies gepostet werden, aber jeder Sorge um seine Daten hat. Der Zustrom an Karten habe trotz NSA-Affäre und Überwachungsängsten nicht nachgelassen.
Die Idee hinter „ Post Secret“ ist einfach und im E-Mail-Zeitalter fast nostalgisch: Man gestaltet eine Postkarte, schreibt sein Geheimnis darauf und schickt sie anonym an das Postfach 2553 in Tübingen. Dort stellt Schultheiß jeden Sonntag die Postkarten ins Netz, der Absender bleibt unerkannt. „Es geht darum, ein Geheimnis preisgeben zu können und es trotzdem, zum Beispiel gegenüber Freunden, nicht verraten zu müssen“, sagt Schultheiß.
Vorbild ist ein Kunstprojekt des Amerikaners Frank Warren. Auch Warrens Projekt heißt „Post Secret“ - „Secret“ für Geheimnis. 2008 gründete Schultheiß die deutsche Version, mehr als 1,8 Millionen Mal wurde seine Webseite bisher angeklickt. Ende Oktober erscheint zu dem deutschen Ableger ein Buch, eine Art Archiv der Geheimnisse. Online seien jeweils nur etwa 20 Einsendungen zu sehen, in der gedruckten Form sollen es rund 208 Seiten sein, sagt Schultheiß. In seinem Wohnzimmer lagern gut 2000 Karten.
Manche Karten sind aufwendig gestaltet, in knalligen Farben bemalt oder wie kleine Collagen beklebt. Andere tragen das Geheimnis des Absenders in schlichten Buchstaben zur Schau. „Du warst kein guter Küsser“ oder „Ich bin einsam“ - die häufigsten Themen sind nach Schultheiß Einschätzung unerwiderte Liebe, Beziehungsprobleme und psychologische Konflikte. Politik oder Religion wie beim amerikanischen Vorbild spielten hingegen seltener eine Rolle. „Die Karten zeigen mir, dass wir alle mehr gemeinsam haben, als wir denken“, sagt Schultheiß. Im Buch stehen die Geheimnisse unkommentiert, wie auf der Webseite.
Unerkannt bleiben und trotzdem aller Welt Geheimnisse mitteilen wollen, ist das nicht ein ständiger Widerspruch? Nein, sagt der Medienpsychologe Tobias Dienlin von der Universität Hohenheim. Für ihn ähnelt das Postkarten-Schreiben der Funktion eines Tagebuchs. Das Schreiben könne einen klärenden, erleichternden Charakter haben. „Post Secret“ beinhalte zudem noch eine weltweite, soziale Dynamik, jeder Absender oder Leser merke: Ich bin nicht allein. Es sei eine Art Suche nach emotionalen Belohnungen. Ähnliches lasse sich in nicht-anonymen Angeboten des Social Web beobachten: Auch hier, beobachtet Dienlin, posten manche User private Einträge in der Hoffnung auf „Gefällt mir“-Klicks und soziale Unterstützung.
Generell hat sich der Umgang mit Geheimnissen aus Sicht des Tübinger Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen verändert. Die „Geheimnisreservate schrumpfen erkennbar“, schreibt er in seinem Zeitungs-Essay „Das Geheimnis braucht der Mensch“. Gegenüber dem Staat, aber auch gegenüber Freunden und Familie werde es immer schwerer, Geheimnisse zu bewahren. Ob ausgespähte E-Mails, Webcam-Bilder oder abgehörte Telefonate, das alles seien „Indizien einer immer präziseren Ausleuchtung der menschlichen Existenz“. Daran hätten sich die meisten unwillkürlich gewöhnt und angepasst. „Wir posten, getrieben von kollektiver Faszination und der Sehnsucht nach Feedback, Privates und Intimes auf sozialen Netzwerken“, schreibt Pörksen. „Wir fordern Privatsphäre, aber handeln längst nicht mehr danach.“
„Post Secret“ lockt da mit dem Versprechen völliger Anonymität für den Geheimnisträger. Die einzigen Bedingungen sind, dass das Geschriebene wahr sein muss und bisher niemandem erzählt worden ist. Überprüfen kann Schultheiß das nicht. Trotzdem zensiert der Tübinger nicht, auch nicht bei dunklen Geheimnissen, „solange es gesetzlich erlaubt ist“. Mit dem Buch zum Blog will der 33-Jährige nun versuchen, eine Art Archiv für die Geheimnisse zu schaffen.
Eine eigene Karte hat Schultheiß allerdings bisher nicht geschrieben. Für ihn liege der Reiz in der Empathie, die selbst gekrakelte Buchstaben auf weißem Grund beim Leser wecken könnten. Auf Postkarten muss niemand einen Absender angeben, im Gegensatz zu E-Mails, die meist nachverfolgbar sind. Daher sieht der studierte Bioinformatiker die Postkarte als die letzte anonyme Kommunikationsform. Auch wenn sie hunderte Male im Netz angeklickt wird. Oder als Buch erscheint.