Verloren in virtuellen Welten - Spielesucht ist ein Teufelskreis

Berlin (dpa/tmn) - Vielleicht hat das reale Lebe keine Ziele oder persönliche Probleme erscheinen unlösbar - Gründe, warum Gaming zur Ganztagsbeschäftigung werden kann - und zum Teufelskreis. Aber nicht jeder, der stundenlang vor PC oder Konsole hockt, ist süchtig.

Mit 7 Jahren saß Markus* zum ersten Mal vor einem Computerspiel, mit 12 Jahren schlich er sich nachts heimlich an den Rechner der Eltern, mit 18 verbrachte er bis zu 16 Stunden am Tag vor dem Bildschirm. Der steile „Karriereweg“ in die Computerspielsucht endete erst, als der Arzt ihm diese Sucht attestierte - und Markus den Computer aus seinem Leben verbannte.

Markus ist der Prototyp des abhängigen Computerspielers. Süchtige wie ihn berät Jannis Wlachojiannis, der für das Berliner Caritas-Projekt „Lost in Space“ arbeitet. Laut dem Diplom-Pädagogen liegt der Altersdurchschnitt der Computerspielsüchtigen bei 23 Jahren, die allermeisten Betroffenen sind Männer. Frauen, die sich nicht mehr vom Computer trennen können, verfingen sich eher in sozialen Netzwerken, sagt Bernd Sobottka, leitender Psychologe in der AHG Klinik Schweriner See.

In dem Krankenhaus werden schwere Fälle von Computersucht behandelt. Menschen, die dorthin kommen, haben ihren Beruf, ihren Partner, ihr reales Leben meist schon verloren. Auch hier sind die Betroffenen zu 90 Prozent Männer - Altersdurchschnitt 30 Jahre. Sie leben fast ausschließlich in einer virtuellen Welt, wo sie ihre Bedürfnisse nach sozialer Nähe und Anerkennung immer wieder kurzfristig befriedigen können. So ein harter Fall war Markus nicht. Neben dem Spielen machte er seinen Zivildienst, begann ein Studium, wollte Lehrer werden. „Am Anfang habe ich da sehr viel Kraft reingesteckt, bin umgezogen, habe mich um soziale Kontakte gekümmert“, sagt der Mittzwanziger heute.

Doch nach einem Semester nahm das Spielen wieder überhand, das Studium ließ er schleifen, brach irgendwann ab, versumpfte. Markus aß wenig, ernährte sich tagelang nur von Eistee, die Zeit zum Kochen wollte er sich nicht nehmen. So geht es vielen Spielsüchtigen. Jede freie Minute wird abgezweigt, um sie am Computer zu verbringen. Freunde werden Nebensache, Alltägliches wie Aufräumen oder Einkaufen sowieso. „Der ganze Alltag wickelt sich ums Spielen, Spielen war mein Tagesziel“, beschreibt Markus diese Zeit. „So wie Drogensüchtige hinter ihrem Stoff her sind, war ich hinter Zeit her, um zu spielen.“

Was Markus erlebt hat, zählen Experten zu den Symptomen einer pathologischen Computernutzung. „Wenn die PC-Nutzung das Leben dominiert und dadurch psychische, körperliche und soziale Beeinträchtigungen entstehen, dann sehen wir eine Krankheitswertigkeit“, erklärt Sobottka. Anders gesagt: Wenn jemand nach Feierabend noch sechs Stunden am Computer spielt, sich trotzdem am Wochenende mit Freunden trifft und die Partnerschaft nicht leidet, gibt es keinen Grund zur Sorge. Allein anhand der Zeit, die jemand mit dem Spielen verbringt, lässt sich eine Sucht nicht feststellen. Doch „wenn jemand aggressiv und gereizt ist, weil er nicht spielen kann, kann das ein Indiz für eine Sucht sein“, ergänzt Wlachojiannis.

Um Computersucht zu behandeln, reicht ein einfacher „kalter Entzug“ nicht aus. Denn hinter der Sucht steckt oft ein Mangel, den die Spiele ausfüllen. Viele der Süchtigen fühlen sich in der realen Welt nicht wohl, in irgendeinem Spiel aber sind sie Helden, retten Welten oder sind Anführer einer Gilde. Und egal ob online oder offline, alle Spiele haben etwas Entscheidendes gemeinsam: „Wenn ich Probleme habe, kann ich beim Spielen abschalten, die Erfolgserlebnisse sind groß“, bringt es Markus auf den Punkt.

Und so beginnt der Teufelskreis. Das Spielen verdrängt Probleme, doch durch das Verdrängen werden die Probleme in der Regel noch größer - und wieder wird Erlösung im Spiel gesucht. Um den richtigen Umgang mit der Sucht zu lernen und die Probleme hinter der Sucht anzupacken, brauchen die meisten Betroffenen professionelle Hilfe. Die finden sie in Suchtberatungsstellen, bei Therapeuten und in spezialisierten Kliniken.

Der Sucht zum Trotz begann Markus eine Ausbildung zum Erzieher. Doch am Computerspielen scheiterte beinahe der Abschluss - und Markus wachte endlich auf. „Da habe ich überlegt, ob etwas mit mir nicht stimmt“, erinnert er sich. Der Arzt diagnostizierte Depression und Computerspielsucht. Und Markus handelte. Er verlieh seinen Computer, schrieb 200 Sachen auf einen Zettel, die er schon lange erledigen wollte, und arbeitete die Liste ab. Dann zog ihn der leere Alltag in ein Loch. Die Zweitdiagnose Depression verhalf ihm zu einer Therapie, allein mit der Diagnose Computerspielsucht, die noch nicht als Krankheit anerkannt ist, wäre es schwierig geworden. Schließlich gründete Markus sogar eine Selbsthilfegruppe.

Markus' Geschichte klingt wie eine lupenreine Erfolgsgeschichte aus der Sucht hinaus. Doch noch immer plagen ihn die Depressionen, noch immer ist er oft ungeduldig. „Ich halte mich über Wasser“, sagt er. Und beschließt jeden Tag aufs Neue: „Heute spiele ich nicht.“

* Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Weitere Informationen: Die Universität Mainz bietet auf ihrer Website einen Selbsttest zu Computerspielsucht an.