Abgebrühte Bürgerlichkeit im „Sommerhaus“

Berlin (dpa) - Marc Schlosser mag den menschlichen Körper nicht, auch Patienten sind ihm eigentlich zuwider. Trotzdem ist er ein erfolgreicher Hausarzt. Wie er das macht?

Er widmet einem jedem Zeit, genau genommen 20 Minuten: „Was ich wissen muss, habe ich schon nach einer Minute herausgefunden. Die übrigen 19 Minuten kann ich dann mit Aufmerksamkeit füllen.“ Und während er sich die großen und kleinen Alltagssorgen seiner Patienten anhört und ihre mehr oder weniger feisten Körper scheinbar eingehend inspiziert, verliert er sich genussvoll in ausufernde Tagträume. So wird er zu einem gefragten Promi-Arzt.

Nein, Marc Schlosser, der Ich-Erzähler in Herman Kochs neuem Roman „Sommerhaus mit Swimmingpool“ ist keine wirklich sympathische Erscheinung, vielmehr ein Zyniker wie er im Buche steht. Er ist Protagonist einer abgebrühten Bürgerlichkeit, wie sie Koch bereits in seinem Roman „Angerichtet“ vorführte. 2009 wurde der holländische Autor damit schlagartig bekannt. In dem weltweit beachteten Thriller entwickelte er aus einer zunächst harmlosen Situation - ein stilvolles Abendessen unter gutbürgerlichen Paaren - eine abgründige, zutiefst verstörende Geschichte um Gewalt und Unterdrückung.

Auch „Sommerhaus mit Swimmingpool“ beginnt nicht gerade mit dem großen Paukenschlag. Über lange Zeit ist sich der Leser keineswegs sicher, ob es sich bei dem Buch überhaupt um einen Thriller handelt. Der erste Teil schildert durchaus kurzweilig die Welt des karrierebewussten Hausarztes zwischen Praxis und Partys. Eines Tages taucht in seiner Sprechstunde der befreundete Schauspieler Ralph Meier auf. Er kommt mit Prostatabeschwerden, doch der Arzt beruhigt ihn. Später erfahren wir, dass der Patient gestorben ist. Seine Witwe Judith beschuldigt Marc des Mordes.

Der zweite Teil des Romans ist eine Rückblende. Marc erzählt, wie er Ralph Meier kennenlernte und was während eines gemeinsamen Urlaubs im Sommerhaus des Schauspielers am Meer passierte. Es ist eine schwüle, anzügliche und überdrehte Atmosphäre, in der sich drei Paare und vier Kinder begegnen. So gekonnt hier auch die zwischenmenschlichen Untiefen und zwielichtigen Konstellationen ausgeleuchtet werden, in diesem Teil verliert der Roman durch allzu große Längen an Schwung. Erst im letzten Teil nimmt er wieder deutlich an Fahrt auf. Jetzt hat er auch eindeutig Thriller-Qualitäten.

Marcs geliebte ältere Tochter Julia wird vergewaltigt, und er hat einen fürchterlichen Verdacht. Der Zyniker zeigt menschliche Gefühle, und man könnte ihn fast sympathisch finden. Doch darf man all seinen Gefühlen folgen, so berechtigt sie auch sein mögen? Psychologisch subtil und äußerst packend werden die verschiedenen Stränge zusammen geführt bis zur mehr oder weniger überraschenden Auflösung.

Herman Koch ist ein brillanter Erzähler. Herrlich, wie er die Vorgänge im Körperinnern aus Sicht des leicht angewiderten Hausarztes schildert, etwa die Arbeit einer überforderten Leber: „Eine überlastete Leber ächzt. Sie ächzt und fleht. Sie fleht um einen einzigen Ruhetag. Einen Tag, an dem sie den schlimmsten Abfall entsorgen kann. Denn gerade ist sie mit der Arbeit im Rückstand. Die überlastete Leber ist wie die Küche eines Restaurants, die niemals schließt. Der Abwasch türmt sich. Die Spülmaschinen laufen auf Hochtouren...Die überlastete Leber setzt ihre ganze Hoffnung auf diesen einen Ruhetag, der nie kommt.“ Mit seinem zweiten Roman ist Koch einmal mehr ein bitterböser Gesellschaftskrimi gelungen.

Herman Koch

Sommerhaus mit Swimmingpool

Kiepenheuer & Witsch Köln

345 Seiten, 19,99 Euro

ISBN 978-3-462-04344-0