Christoph Schlingensiefs Vermächtnis
Berlin (dpa) - Die Memoiren von Christoph Schlingensief beginnen einen Tag vor seiner Hochzeit, am 31. Juli 2009. „Das Wetter ist wunderschön und soll auch so bleiben, eigentlich müsste ich mich nur freuen.
Aber so ist es eben leider nicht.“ Seit mehr als einem Jahr hat der in Berlin lebende Regisseur da schon Krebs. Kurz nach der Hochzeit werden Metastasen im verbliebenen Lungenflügel entdeckt. Ein Jahr später ist er tot, keine 50 Jahre alt.
Die lange erwartete Autobiografie, jetzt unter dem Titel „Ich weiß, ich war's“ erschienen, ist ein Parforceritt durch ein ungewöhnliches und atemloses Leben - angefangen von den ersten Kamera-Experimenten im elterlichen Apothekerhaushalt in Oberhausen über die „Parsifal“-Premiere auf dem Grünen Hügel in Bayreuth bis zum wahr gewordenen Traum von einem Operndorf in Afrika.
Ganz am Schluss wollte Schlingensief noch einen Film drehen. Der Drehort war schon gebucht, das Exposé lag vor, der Termin stand. „Es geht um das Sterben, nicht mehr ums Sterbenlernen“, notiert er. „Um die Abrechnung kurz vor Schluss, auch um die unendliche Sehnsucht, nicht als Depp gehen zu müssen. Und um die Hoffnung, nicht am Ende noch alles kaputt zu machen.“
Von dieser Sehnsucht ist auch das Buch gekennzeichnet. Da spricht einer, der zeitlebens in Schubladen gesteckt wurde: Der „Berufs-Provokateur“ mit seinen bluttriefenden Kettensägen-Filmen. Der „Politclown“ mit seiner Partei Chance 2000, die Helmut Kohls Ferienhaus am Wolfgangsee fluten wollte. Und der „Gutmensch“, der dem Leben mit einem Hilfsprojekt in Afrika einen Sinn geben möchte.
Schlingensief rückt vieles zurecht, setzt seine Sicht der Dinge entgegen. Und lässt dabei einen Menschen sichtbar werden, der trotz aller Egomanie, Selbstliebe und Krawallfreude, trotz aller Selbstzweifel und Missverständnisse beharrlich auf der Suche nach einem inneren Frieden ist. Es ist ein schönes, berührendes und manchmal auch sehr lustiges Buch.
„Christophs Absicht war es nicht, Resumée zu ziehen oder schleichend Abschied zu nehmen. Er wollte sich ins Leben zurückkatapultieren“, schreibt seine 31 Jahre alte Frau, die Kostümbildnerin Aino Laberenz, die das Buch herausgegeben hat. Als Schlingensief starb, hatte er einen großen Berg von Material für seine Erinnerungen hinterlassen. Beim Verlag hieß es sogar zunächst, das Manuskript sei fast fertig.
Doch bei der Vorstellung des Buches machte Laberenz jetzt deutlich, dass ihr Mann mit den vorliegenden Teilen noch keineswegs zufrieden war. Sie hat das Material gesichtet und neu geordnet: Auf Tonband gesprochene Lebenserinnerungen sind ergänzt um Mitschnitte von den Leseabenden, bei denen der Autor 2009 sein erfolgreiches Krebstagebuch vorstellte („So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“). Dazu gibt es Interviews, Blogeinträge, E-Mails an Freunde und viele Fotos.
„Es ist klar: Mit Christoph wäre das Buch ein komplett anderes geworden“, räumt Laberenz ein. Dennoch ist es ihr auf wunderbare Weise gelungen, seinen lockeren Erzählton, seine Abschweifungen, Kapriolen und Zeitsprünge zu erhalten.
Besonders anrührend sind die wenigen Passagen, die von der Beziehung der beiden erzählen. „All dieses Durcheinander hat mir eigentlich erst Aino genommen“, sagt er einmal, „damals im Krankenhaus, als ich sie wegekeln wollte, sie aber geblieben ist. Nur gesagt hat: Ich bleibe, weil ich dich liebe.“
Am Schluss ist es der Traum vom Operndorf, der den Schwerkranken noch am Leben hält. „Es ist vollbracht. Die Grundsteinlegung des Operndorfs hat stattgefunden“, notiert er im Februar 2010, als er ein halbes Jahr vor seinem Tod noch an der Feier im westafrikanischen Burkina Faso teilnehmen kann.
Inzwischen ist dort eine Schule eröffnet worden, eine Krankenstation wird gebaut. Und irgendwann wird es vielleicht sogar einmal ein Festspielhaus geben. Ihm sei an diesem Ort wie aus dem Nichts ein Satz erschienen, schreibt Schlingensief. „Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Christoph Schlingensief
Ich weiß, ich war's
Hg. von Aino Laberenz
Kiepenheuer & Witsch Köln
304 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-462-04242-9