Der böse Gott - Mit Saramago durchs Alte Testament
Berlin (dpa) - Darf man die Bibel umschreiben? José Saramago hatte damit Erfahrung. Als der portugiesische Autor vor zwanzig Jahren „Das Evangelium nach Jesus Christus“ veröffentlichte, sorgte er in seinem katholischen Heimatland für einen gewaltigen Skandal.
In dem Roman erzählte er das Leben Jesu Christi auf höchst eigenwillige Weise und stellte Gott als machtgeilen Zyniker dar. Die Regierung in Lissabon strich ihn daraufhin von der Vorschlagsliste für den Europäischen Literaturpreis, und als Saramago 1998 den Literaturnobelpreis erhielt, protestierte auch der Vatikan.
Die Bibel hat dem im Juni 2010 verstorbenen Atheisten nicht losgelassen. Im Jahr vor seinem Tod schrieb er den Roman „Kain“, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Wie der Titel schon sagt, geht es um den Brudermörder aus der Schöpfungsgeschichte, der im Zorn Abel erschlägt, weil Gott an dessen Opfergaben mehr Gefallen fand als an seinen. Als Strafe wird er dazu verdammt, unstet durch die Welt zu irren. Jenseits von Eden, so die Bibel, ließ er sich nieder.
Bei Saramago nun geht Kain auf eine Zeitreise durch das Alte Testament. Er begegnet Abraham und Moses, Josua und Hiob und fährt sogar auf Noahs Arche mit. Und er empört sich über den Schöpfer. Er findet es unglaublich, dass Gott Abraham auffordert, seinen Sohn Isaak zu opfern, nur um seinen Glauben auf die Probe zu stellen oder dass bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha auch alle Kinder im Feuerregen sterben müssen. Am Berg Sinai wird Kain Zeuge, wie 3000 Mann massakriert werden, weil sie das Goldene Kalb anbeteten, und in Jericho erlebt er, wie die Israeliten bei ihrem Vormarsch ins Gelobte Land die ganze Zivilbevölkerung niedermetzeln.
„Eins habe ich gelernt, dass unser Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, komplett verrückt ist“, sagt Kain seiner Geliebten Lilith, als er von seiner ersten Zeitreise zurückkehrt. Ständig wächst sein Groll gegen Gott, den er für den Tod von Hunderttausenden von Menschen verantwortlich macht. Er belegt Gott und Abraham mit einem nicht zitierfähigen Kraftausdruck, und am Ende empfindet er sogar Sympathie für den Teufel. Nicht aus Neid habe Luzifer gegen Gott aufbegehrt, sondern „weil er die bösartige Natur des Kerls kannte.“
Starker Tobak, möchte man meinen. Die von Saramago detailreich ausgemalten Bluttaten stehen allerdings alle so in der Bibel, auch wenn manche Textstellen, wie die vom Völkermord an den Midianitern (4. Mose 31), selten gelesen werden. Andere Teile des Alten Testaments bleiben außen vor. Die Poesie der Psalmen, die Schönheit des Hohelieds oder die Weisheit der Propheten dringen nicht an Kains Ohr. In seiner sehr lebendig geschriebenen, von feiner Ironie durchzogenen Erzählung pickt Saramago die gewalttätigen Seiten der christlich-jüdischen Überlieferung selektiv heraus. Die Frage, wie weit die biblischen Erzählungen auch uralte Menschheitserfahrungen mythisch verarbeiten, beschäftigt den Autor weniger.
Mit „Kain“ machte sich Ketzer Saramago in den letzten Monaten seines Lebens noch einmal viele Feinde in Portugal. Schon nach dem Skandal um sein „Evangelium“ hatte er aus Protest gegen das Verhalten seiner Regierung dem Vaterland Lebewohl gesagt und war auf die spanische Insel Lanzarote übergesiedelt. Nun, Ende 2009, forderte ein heimischer Europaabgeordneter den alten Kommunisten auf, auch die portugiesische Staatsangehörigkeit schnellstens abzulegen. Saramago reagierte gelassen. „Das Problem ist, dass wir uns einen Gott nach unserem Ebenbild ausgedacht haben, nicht umgekehrt, und deshalb ist er so grausam“, sagte er bei einem seiner Auftritte.
José Saramago
Kain
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
176 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-455-40295-7