Im Exil Endstation Petrópolis: Die „drei Leben“ des Stefan Zweig
Petrópolis/Wien (dpa) - Der weiße Bungalow liegt steil am Berghang, im Garten befindet sich ein auf den Boden gemaltes Schachbrett mit großen Figuren.
Als er hier ankam, schrieb Stefan Zweig im September 1941: „Wir sind heute glücklich übersiedelt. Es ist ein ganz winziges Häuschen, aber mit großer gedeckter Terrasse und wunderbarem Blick. Jetzt im Winter reichlich kühl und der Ort so schön verlassen wie Ischl im Oktober oder November. Aber endlich ein Ruhepunkt für Monate und die Koffer werden eben auf langes Niemehrwiedersehen verstaut.“
Fünf Monate später sind Zweig und seine Frau Lotte tot. Sie haben sich in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 das Leben genommen, vergiftet mit einer Überdosis Schmerzmitteln. In Brasilien hielten sich lange Gerüchte, Schergen von Hitlers Gestapo seien dem ins Exil nach Brasilien geflüchteten Schriftsteller gefolgt und hätten ihn getötet. Hier, wo er 1936, 1940 und ab 1941 schließlich dauerhaft Station machte, sah er fast naiv schwärmerisch durch das friedliche Zusammenleben der Menschen unterschiedlichster Kulturen das „Land der Zukunft“.
Doch es war ein selbstbestimmter Weg, ein tragisches Ende nach acht Jahren Flucht. Etwas versteckt liegt auf dem Friedhof von Petrópolis, früher die Sommerresidenz des brasilianischen Kaiser, das schlichte schwarze Granit-Grab der Zweigs - ein frisches Blumenbesteck liegt dort. „Zweig war kein Kämpfer“, sagt sein Biograf Ulrich Weinzierl.
Als das Paar aus dem Leben schied, hatten die Alliierten gerade Singapur an die Japaner verloren. Der spätere Sieg gegen die Nazis und die Verbündeten in Fernost zeichnete sich noch nicht ab. Die Nachricht vom Doppel-Selbstmord bestürzte weltweit - Zweig war einer der bekanntesten Literaten. „Für viele war es eine Art Desertion“, meint Weinzierl. Denn im Vergleich zu vielen anderen Exilanten ging es dem damals 60-Jährigen, ohnehin aus einer äußerst begüterten jüdischen Fabrikantenfamilie, zumindest finanziell glänzend.
Er war seit den 1920er Jahren zum meistgelesen deutschsprachigen Autor geworden. Der leidenschaftsgetränkte Novellenband „Amok“ bedeutete den Durchbruch. Bekannt wurde Zweig aber auch durch die vielen Porträts, die er mit größter Akribie und psychologischer Tiefe zu spannenden Zeitmosaiken fügte. Der Seelenforscher schilderte Balzac, Dickens, Dostojewski, Magellan, Fouché, Maria Stuart, Marie Antoinette. Auch dank glänzender Übersetzung ins Französische sei Zweig, „der Einfühler schlechthin“, im Nachbarland bis heute überaus populär, so Weinzierl.
Der Biograf hat zuletzt in seinem Buch „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“ (2015) das erotische Leben des Autoren von „Ungeduld des Herzens“ oder „Verwirrung der Gefühle“ analysiert. Dass Zweig, neben vielen sexuellen Abenteuern mit wohl äußerst jungen Mädchen, auch flüchtige Begegnungen mit Männern hatte, schien ihm weniger verstörend, als der Umstand, dass er ein Exhibitionist war.
Thomas Mann habe davon gewusst, wohl auch ein Grund, warum er seinem Kollegen sehr distanziert gegenüberstand. „Dabei war Mann trotz seiner sechs Kinder geschätzt hundert Mal homoerotischer als Zweig“, meint Weinzierl. Den Selbstmord nannte Mann kühl „ein rätselhaftes Vorkommnis“, „albern, schwächlich und schimpflich“, wie aus dem Band über den Briefwechsel Thomas Mann - Stefan Zweig hervorgeht.
Überschattet war der Ruf Zweigs seit der Machtergreifung der Nazis 1933 aber von etwas anderem. Der 1934 zunächst nach England geflohene Jude konnte sich nie aufraffen, öffentlich gegen seine Verfolger Stellung zu beziehen. „Er konnte nicht hassen, nicht einmal die Nazis“, vermutet Weinzierl. Dafür unterstützte Zweig viele Flüchtlinge großherzig und generös finanziell.
Auch im Exil blieb er äußerst produktiv, bis in die letzten Lebensmonate hinein. Auf der Terrasse seines Hauses in Petrópolis schrieb Zweig 1941 seine berühmte „Schachnovelle“ zu Ende: Über das Duell zwischen Dr. B., der einst in Nazi-Haft in Österreich ein Schachbuch in die Hände bekommt, Partien auswendig lernt und an Bord den mitreisenden Schachweltmeister Mirko Czentovic schlägt. Im Garten des letzten Domizils steht heute ein überdimensionales Schachbrett.
Es sind die Themen seines Lebens: Die dunkle Zeit in der Heimat, die Zerstörung von Kultur und Menschen. Der Gang ins Exil, Einsamkeit. Zweig wollte sein wohl wichtigstes, teils autobiografisches Buch „Die Welt von Gestern“ erst die „Drei Leben“ nennen. Denn das beschreibt sein Leben treffend: auf die Wanderjahre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges folgte die wohl stabilste Phase, der Aufstieg zum gefeierten Schriftsteller in Salzburg, bevor die letzten acht Jahre die Fluchtjahre wurden: Großbritannien, USA, das Ende in Brasilien.
In der Casa Zweig in Petrópolis hängt auch der vom 22. Februar 1942 datierte Abschiedsbrief, in dem er von der geistigen Vernichtung Europas spricht. Zweigs letzte Worte: „Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“ Einige Schriften, das Ringen um den Zusammenhalt Europas, für Toleranz und Frieden, sind in Zeiten von Brexit und weltweiten Verwerfungen hochaktuell. Immer wieder schrieb er an seine erste Frau Friderike, obwohl er hier mit seiner zweiten Frau Lotte lebte. Er berichtete: „Wir sind Meilen und Meilen von der geliebten Heimat entfernt. Mir fehlen die Freunde, Bücher und Konzerte.“ Stefan und Lotte standen oft am Zaun, und wieder kam keine Post aus Europa an.
Rund 30 000 Briefe hat er in seinem Leben geschrieben, mit Walther Rathenau, Rainer Maria Rilke, Maxim Gorki oder Sigmund Freud. Er wurde in Petrópolis depressiv, ohne den intellektuellen Austausch.
Die Zweig-Übersetzerin und Hüterin des Erbes in Brasilien, Kristina Michahelles, meint: „Stefan Zweig war ein Mann, der aus der Alten in die Neue Welt kam - aber an das 'Ende der Welt', und nicht mehr zurechtkam.“ Die Casa Zweig ist heute ein kleines Museum. „Wir wollen gerade junge Brasilianer für sein Werk begeistern“, sagt Michahelles. Sie sieht unter anderem in Frankreich eine neue Zweig-Renaissance: „In vielen Bücherregalen steht Stefan Zweig heute wieder vorne.“