Ja, klassische Musik strengt an
Autor Holger Noltze deckt „Die Leichtigkeitslüge“ auf.
Düsseldorf. Der Titel klingt wie die Schlagzeile einer Enthüllung trügerischer Diät-Versprechen. Doch in Holger Noltzes Buch „Die Leichtigkeitslüge“ geht es um Musik, und zwar klassische, also um teilweise schwere Kost. Der Musikjournalist und Professor für „Musik und Medien“ an der TU Dortmund legt den Finger in die Wunde von Musikproduzenten und Intendanten, die meist erfolglos versuchen, mit Hilfe einer bunten Aufbereitung neue Hörerschichten für die sogenannte „Ernste Musik“ zu gewinnen.
„Komplexitätstoleranz“ heißt für den Autor das Zauberwort, sozusagen der Schlüssel zur Schatzkammer der Musikgeschichte. Um also die dort verborgenen Musikschätze zu heben, müsse sich der Hörer schon ein bisschen anstrengen. Und vor allem dürfe ihm diese Tatsache nicht verschwiegen werden. Doch genau das täten die „furchtbaren Vermittler“, wie Noltze die heutigen Klassik-Entertainer nennt. Zu den „Furchtbaren“ zählt Noltze unter anderem Elke Heidenreich, die in ihrem Buch „Passione“ vor allem über sich selber rede.
Frau Heidenreich berichte etwa über ihre Neigung zu weinen, sobald in der Oper das Licht ausgehe. Aber der Heidenreich-Leser dürfe sich nicht wundern, wenn bei seinem lediglich auf diese Weise vorbereiteten Opernaufenthalt die im Buch gepriesenen Gefühlsaufwallungen ausblieben.
In Noltzes Schusslinie stehen auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Was von denen unter der Rubrik „Kultur“ verabreicht werde, wirke zu sehr um Mehrheitsfähigkeit bemüht. „So weit wie nur irgend möglich werden die Scheunentore zur ‚Kultur’ geöffnet, es gehen aber nicht mehr Leute hindurch.“ Die grundsätzlich Interessierten fühlten sich von dem, was ihnen solches Kulturfernsehen bietet, unterfordert. Und die grundsätzlich Nichtinteressierten hätte man damit eben noch lange nicht gewonnen.
„Als die Medien mit dem letzten Mozart-Jahr 2006 fertig waren, war Mozart medial gründlich erledigt — aber worum es im ‚Figaro’ geht, wo das Unbegreifliche anfängt, das kam nicht vor“, meint Noltze.
Die Stärke seines Buches liegt vor allem in der klugen Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit dem musikalischen Erbe. Einen Leitfaden gibt er dem Leser allerdings nicht an die Hand. Hier könnte Thomas Mann aushelfen, der einmal über die musikalische Bildung sagte, dass das Lernen über Strecken von Unwissenheit hinweg das förderlichste sei. „Ich meine, der übersprungene Raum füllt sich auch mit der Zeit wohl von selber aus.“
Man nehme die Matthäus-Passion von Bach. Für den, der ihr ein erstes Mal folgt, ist sie vor allem eines: lang. Nach mehrmaligem Hören aber offenbart sich wie von selbst die ganze Tiefe der Musik.