Kubakrise und Cowboys - Siegfried Lenz erinnert sich

Hamburg (dpa) - Es ist ein bewegender Auftritt eines großen Schriftstellers: Siegfried Lenz („Deutschstunde“), inzwischen 86 Jahre alt und auf den Rollstuhl angewiesen, erinnerte sich am Sonntag im Hamburger Thalia Theater voll Dankbarkeit und Humor, aber auch mit der sensiblen Distanz des Betrachters an seine USA-Reise 1962.

Eingeladen vom US-Botschafter, hatte der damals 36 Jahre junge, aufstrebende Autor die Chance, seine angelesenen Vorstellungen über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten real zu überprüfen.

Erst jetzt, ein halbes Jahrhundert danach, ist Lenz' „Amerikanisches Tagebuch 1962“ erschienen - ein Zeitdokument, denn es notiert auch die Stimmung in den USA während der Kuba-Krise, als die Welt am Abgrund ein Atomkrieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion stand.

Warum er denn im Tagebuch auf Analysen oder die Beschreibung seiner eigenen Empfindungen verzichtet, fragt der Kulturjournalist Ulrich Greiner, der mit Lenz auf der Theaterbühne an einem kleinen runden Tisch sitzt. Er verstehe sein Tagebuch auch als Zeichen der Dankbarkeit, sagt Lenz. Deshalb habe er „auf die große Analyse oder denunziatorische Metaphern verzichtet“ und als Beobachter dokumentiert, was er gesehen habe: „Der Augenschein hat seine ganz eigene Beweiskraft.“ Und so nennt Lenz als ein Beispiel, dass er nach einer Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy den Drang verspürte, einem Amerikaner hinterherzugehen, „nur um zu sehen, ob und wie sich die Rede auf den Gang, die Körpersprache auswirkte“.

Um den Sprachstil und -ton des Tagebuchs zu vermitteln (so Hoffmann-und-Campe-Chef Günter Berg in der Begrüßung), liest zunächst der preisgekrönte Schauspieler und Sprecher Burghart Klaußner( „Der Vorleser“, „Das weiße Band“) eine halbe Stunde aus Lenz' Tagebuch. Seine Vortragskunst - Pausen, den Stimmfall und das Tempo immer wieder variierend - gibt dem Text besondere Tiefe und Ausdruckskraft.

Die Ängste der Amerikaner vor dem Krieg, aber auch ihre Bereitschaft notfalls für ihre Ideale zu sterben, macht Klaußner für die Theaterbesucher hörbar. Oder die humorvoll beschriebene Fremdheit, die Lenz bei Cowboys und Viehzüchtern empfindet: Als ihn der Rancher Harry Olsen, der ihn eingeladen hatte, „bereits im Bett lag, verlegen lachte, freimütig furzte, als ich ihn begrüßte. Ich wusste nicht, wo ich war, nur die Rufe des Viehs drangen von weit her zu mir.“ Zum Schluss liest Klaußner das Ende des Tagebuchs vor, Lenz berichtet über das Auf-sich-allein-Gestelltsein in New York. „Hier wird Dir bewiesen, welch eine armselige Erscheinung du bist.“

Sekunden später wird der 86-Jährige im Rollstuhl auf die Bühne geschoben, Greiner nimmt im Sessel daneben Platz. Warum Lenz immer wieder im Tagebuch über das üppige, meist preiswerte Essen in den Staaten geschrieben habe? „Wenn ich um 7.15 Uhr in Bargteheide den Zug bestieg, überlegte ich, was wirst Du in Hamburg essen können?“ berichtet Lenz, was ihn als Student existenziell beschäftigte. Die Erfahrungen einer abgehärteten Kriegsgeneration, die dem Tod ins Auge schaute, schimmern durch, wenn Lenz seine durchaus glaubhafte Gelassenheit schildert während der Kubakrise („...wieder eine neue Erfahrung“).

Und so empfindet Lenz großen Dank noch heute für die USA, die die Hungersnöte nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa bekämpften und Deutschland beim Wiederaufbau halfen. „Wir haben den Siegern sehr viel zu verdanken, auch in diesem Land“, sagt Lenz. Und die Besucher im Theater, darunter die amerikanische Generalkonsulin in Hamburg, hören auch diesen sich für Lenz' so typischen, sich selbst zurücknehmenden Satz: „Es wäre eine sehr aparte Verstiegenheit, sich als kleiner deutscher Schriftsteller mit Amerika zu vergleichen.“

Und dann will Greiner noch wissen, ob sich weitere unveröffentlichte Tagebücher in den Regalen bei Lenz zu Hause verbergen. Lenz erwidert unter dem Gelächter der Zuhörer: „Da müssen Sie meine Frau fragen...“