Literaturnobelpreisträger wird am Donnerstag gekürt
Stockholm (dpa) - Als Marathonläufer muss Haruki Murakami einen langen Atem haben. Als Anwärter auf den Literaturnobelpreis einen noch längeren. Jahr für Jahr krönt der japanische Schriftsteller die Wettliste des britischen Büros Ladbrokes.
Doch nie war es sein Name, den die Schwedische Akademie im Oktober in Stockholm verkündete. Murakami („Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“) hielt stets bis kurz vor Schluss seinen Stammplatz als Favorit - nur, um dann auf der Zielgeraden von Alice Munro (2013), Mo Yan (2012) oder Tomas Tranströmer (2011) überholt zu werden. Ob es ihm dieses Jahr wieder so ergeht, zeigt sich an diesem Donnerstag (9. Oktober).
Bis dahin stochern Branchenkenner und Journalisten im herbstlichen Schweden noch im Nebel, wenn es um die in diesen Tagen heißeste Frage geht: Wer bekommt die begehrteste Literaturauszeichnung der Welt?
36 neue Namen sind laut der Jury unter den Nominierungen - doch im Gespräch sind vor allem die alten. „Es wird wieder sehr viel über Swetlana Alexijewitsch gesprochen, mehr noch als letztes Jahr“, sagt der schwedische Verleger Svante Weyler. Ihr Name war 2013 im Endspurt an die Spitzen der Wettlisten geschossen. „Sie wird überall publiziert, hat zur Ukraine-Krise so klare Worte gesprochen“, sagt Weyler. Ihr Favoritenstatus „erhärtet sich weltweit“.
Auf die weißrussische Autorin setzt auch Kulturredakteur Jens Liljestrand von der schwedischen Boulevardzeitung „Expressen“. „Ich glaube, sie wollen der literarischen Reportage den Preis geben. Es ist ein Genre, das noch nie ausgezeichnet wurde.“ Dass die Experten sich einig sind, dürfte die Schwedische Akademie, die den Preis vergibt, wenig beeindrucken. Wenn es um Formen gehe, sei der Bund aus 18 Mitgliedern so konservativ wie die Literatur selbst, sagt Weyler.
In einem ist „Die 18“ ausgesprochen gut: im Dichthalten. Als die neue Nobeljurorin Sara Danius wenige Wochen vor der Preisvergabe durch ein Einkaufszentrum mitten in Stockholm bummelt, drückt sie ihre Lederhandtasche fest an sich. Falls sich darin überhaupt Nobelpreis-Lektüre befindet, würde sie die wohl niemals bei einer Shoppingpause oder in der U-Bahn lesen.
Strenge Regeln und Decknamen für die Autoren in den geheimen Beratungen sorgen dafür, dass die Außenwelt nicht einmal den Hauch einer Ahnung bekommt. „Harold Pinter nannten sie "Harry Potter"“, sagt Weyler. Er ist sich sicher, dass die Lippen der Juroren auch diesmal versiegelt bleiben. „Nichts wird herausdringen, und wenn es das tut, kann man davon ausgehen, dass es eine falsche Spur ist.“
Der Ständige Sekretär der Akademie Peter Englund gibt in diesem Jahr erst gar keine Interviews vor der Bekanntgabe. Auf der größten Buchmesse Schwedens in Göteborg hingen Journalisten ihm und seinen Kollegen wenige Wochen vor der Verkündung wohl trotzdem an den Lippen. „Das ist wie bei der Sphinx: Zwei Worte fallen, und dann wird diskutiert. Die Geheimnis-Bande hat ihre Freude daran“, sagt Weyler.
Wettlisten im Internet machten es Medien aber einfacher, meint Elise Karlsson, Kulturredakteurin beim „Svenska Dagbladet“. Was Murakami angeht, lagen die Tipper zwar immer falsch. Doch kurz vor der Verkündung fand sich der Gewinner oft unter den „Top Five“ der Ladbrokes-Liste. Derzeit ist dem Japaner nach Wettquoten der Kenianer Ngugi Wa Thiong'o am dichtesten auf den Fersen - ein aussichtsreicher Kandidat, meint Karlsson: „Er ist einer der stärksten afrikanischen Autoren, und der Kontinent ist lange missachtet worden.“
Missachtet wird nach Ansicht vieler Kritiker auch die Riege US-amerikanischer Nobel-Anwärter wie Philip Roth, Thomas Pynchon oder Joyce Carol Oates. Mit der Kurzgeschichtenautorin Alice Munro ging der prestigeträchtige Preis 2013 immerhin an eine Kanadierin.
Deutschsprachige Autoren machen sich dagegen schon auf den Wettlisten rar - mit Ausnahme des Österreichers Peter Handke. Der Schriftsteller ist aber wegen seiner Pro-Serbien-Haltung umstritten. Bei der Verleihung des norwegischen Ibsen-Preises war er dafür kürzlich ausgebuht worden. „Er ist auch literarisch umstritten“, meint Weyler.
Der frühere Chef des Hanser-Verlags, Michael Krüger, führt Handke trotzdem auf seiner Favoritenliste - genau wie den deutschen Dramatiker Botho Strauß. Schriftsteller Moritz Rinke wettet auf den ewigen Anwärter Roth. Sein Kollege Uwe Tellkamp kann sich nicht nur den Rumänen Mircea Cartarescu als Nobelpreisträger vorstellen, sondern auch Joanne K. Rowling für die „Harry Potter“-Romane.
Bei den Online-Tippern dagegen fällt die literarische Mutter des Zauberlehrlings durch. Behalten die Zocker Recht? Tappen die Kenner im Dunkeln? Kommt Murakami diesmal doch endlich als erster ins Ziel?
Gelüftet wird dieses Rätsel erst am Donnerstag. Die Geheimniskrämerei sei eben auch ein Schlüssel zum Erfolg des Preises, meint Weyler: „Sie hat sich ja gelohnt, wir sitzen da und spekulieren.“ Die Spannung sollte die Literaturwelt aber mit Genuss aushalten - würde jedenfalls der Träger eines anderen Nobelpreises, Physik-Genie Albert Einstein raten. Er fand: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“