Einfühlsam Ralf Rothmanns neuer Roman „Der Gott jenes Sommers“

Berlin (dpa) - Wie kann man leben, wenn ein Vernichtungskrieg und eine mörderische Ideologie alles Humane zerstört haben? Wie kann man da noch Kind sein in dieser Zwischenzeit Anfang 1945, als das Nazireich in Trümmern versank und die Welt der Erwachsenen moralisch und physisch am Ende war?

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Um diese immer noch relevanten Fragen dreht sich der neue, bewegende und souverän erzählte Roman von Ralf Rothmann.

Mit „Der Gott jenes Sommers“ knüpft der seit vielen Jahren in Berlin lebende Autor an seinen Erfolgsroman „Im Frühling sterben“ von 2015 an. Dessen Protagonist Walter, ein 17-jähriger Melker, dessen reales Vorbild Rothmanns eigener Vater war, taucht auch im neuen Roman wieder auf. Aber der Fokus liegt diesmal auf der 12-jährigen Luisa, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Billie vom ausgebombten Kiel auf das vom Krieg verschonte Landgut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, flieht. Das verträumte Mädchen steckt in der zauberhaft-schrecklichen Phase zwischen Kindheit und Pubertät: Ihr Teddy liegt noch im Regal, aber sie hat längst das Reich der Literatur entdeckt und liest Fontane, Karl May und alles, was sie in die Finger bekommt.

Gewohnt einfühlsam und mit leisem Humor gelingt es dem Autor, die prekäre Gefühlswelt seiner Protagonistin bis in die verborgensten Winkel auszuleuchten. Luisa verguckt sich in den Melker Walter. Gemeinsam päppeln die beiden eine geschundene Stute auf, die auf dem langen Flüchtlingstreck von Ostpreußen nach Norddeutschland sehr gelitten hat. Dann bringen die beiden mit vereinten Kräften noch ein Kälbchen zur Welt. Dies schildert Rothmann sehr ausführlich. Manchmal vergräbt sich dieser Autor förmlich in seinen Beschreibungen, setzt immer noch einen drauf. Da fällt es dann schwer, die Details zum Leuchten zu bringen.

Wie schon in den Ruhrgebietsromanen „Milch und Kohle“ und „Junges Licht“ lernen wir wieder eine kaputte Familie kennen, in der vieles unausgesprochen bleibt. Luisas verhärmte Mutter hat sich in ihrem Selbstmitleid abgeschottet, und ihre ältere Schwester Billie flüchtet in ihrer Lebensgier in immer neue, fatale erotische Abenteuer. Ihren sympathischen Vater mag Luisa wirklich gern, aber leider ist dieser fast immer bei dubiosen Geschäften in Kiel unterwegs, und trinkt auch zuviel.

Ein wenig Geborgenheit findet Luisa bei Ole, dem Kind einer Perückenmacherin. Aber inmitten der scheinbaren Idylle lauert in diesem Roman immer das Grauen. Einmal stromern Luisa und Ole durch die Gegend und kommen an den Zaun eines Gefangenlagers, wo die Kinder von zwei Wachmännern rüde eingeschüchtert werden. Es gibt keinen Rückzugsraum mehr, der Krieg raubt ihnen ihre Kindheit. Für Luisa eskaliert die Lage, als sie sich auf dem pompösen Geburtstagsfest ihres Nazi-Schwagers Vinzent der Übergriffe dieses Scheusals nicht erwehren kann. Danach erkrankt sie an Typhus und kommt nur ganz allmählich wieder auf die Beine.

Der Krieg erscheint als Alptraum, der die Zeiten überdauert. Zwischen den Kapiteln in Rothmanns Roman, der mit einem Motto des Barockdichters Andreas Gryphius ansetzt, kommt immer wieder ein Chronist aus dem Dreißigjährigen Krieg zu Wort, ein gewisser Bredelin Merxheim, der in einem altertümelnden Deutsch Gräuel und Erlösung beschwört.

Aber irgendwann ist auch der Zweite Weltkrieg vorbei. Luisa besucht das naheliegende Kloster und findet Trost bei der verständnisvollen Schwester Mathilde, einer mittlerweile Chesterfield rauchenden Nonne, die mit beiden Beinen im Leben steht. Sie erinnert daran, dass es jenseits des grauen Menschenalltags noch eine „Welt voller Wohlwollen, Schönheit und Eleganz“ gibt. Auch wenn es auf Erden davon kaum eine Spur zu geben scheint.

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers, Suhrkamp Verlag, Berlin, 254 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-518-42793-4