Rushdies absurde Märchenstunde
Frankfurt/Main (dpa) - Ein orientalisches Märchen und eine Fantasy-Story, eine politische Streitschrift und eine philosophische Abhandlung, ein Zeitporträt und eine Zukunftsvision, ein Liebesroman und eine Humoreske - das alles und noch viel mehr ist der neue Roman von Salman Rushdie.
Keinem anderen Schriftsteller würde man zutrauen, so viel zusammenzurühren, ohne damit total an die Wand zu fahren.
„Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“ heißt das neue Buch des großen indischstämmigen Autors. Zu Unrecht wird der 68-Jährige meist zuerst mit den „Satanischen Versen“ verbunden, seinem intellektuell anspruchsvollsten Buch, für das er von islamischen Fundamentalisten mit einer Fatwa belegt wurde. Seine Jahre im erzwungenen Untergrund verarbeitete er 2012 in der Autobiografie „Joseph Anton“.
Sein letztes literarisches Werk, „Die bezaubernde Florentinerin“ liegt nun schon ein paar Jahre zurück. Rushdie bewies damit 2009 - nach den literarisch schwächeren Jahren in der Zeit der Verfolgung - dass er wieder in der Lage ist, an die Qualität seiner frühen Werke wie „Die Mitternachtskinder“ anzuknüpfen.
„Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“ allerdings ist ein Buch für Fans. Rushdie-Liebhaber werden an der unnachahmlichen Verquickung von Absurdem und Realen, von Trivial-Trash und Philosophie, am Herumspringen in den Genres und Stilen ihre helle Freude haben. Wer diese Art der Marsala-Literatur nicht mag, den wird dieses Buch wohl eher nicht dazu bekehren.
Schon den Inhalt zusammenzufassen, ist eine Herausforderung. Sind die Hauptfiguren die beiden mittelalterlichen Philosophen, die als Staub im Grab über Religion diskutieren: der Fundamentalist Ghazali und der Säkulare Ibn Ruschd? Oder die „Dschinn“-Geister, die um die Vorherrschaft auf der Erde kämpfen: die gute Dunia und ihre bösen Gegenspieler Zabardast und Zumurrud?
Auch die Menschen haben übersinnliche Fähigkeiten - das Buch spielt im „Zeitalter der Seltsamkeiten“ nach einem großen Sturm, bei dem die Erde fast vernichtet worden wäre. Ein bodenständiger Gärtner schwebt plötzlich zentimeterhoch über der Erde, vor dem Bett eines pickeligen Comic-Zeichners steht real das von ihm erdachte Monster, aus den Händen einer verstoßenen Geliebten schießen Blitze, ein Findelkind entlarvt korrupte Politiker mittels Beulen im Gesicht.
Sie alle haben angewachsene Ohrläppchen, was sie als Nachfahren der Kinder von Dunia und Ibn Ruschd ausweist, die bestimmt sind, die Welt zu retten. Zu abgedreht? Mag sein, und doch verankert Rushdie all diese Phantasmen höchst kunstvoll - und noch dazu mit viel Humor - in unserer Gegenwart.
Von „Parasiten-Dschinn“ Besetzte schießen in Osteuropa Flugzeuge vom Himmel, jagen sich vor Militärstützpunkten in die Luft und steinigen untreue Ehefrauen. „Eine mörderische Bande Dummköpfe, die sich „die Streber“ nennen“ herrscht in einem Land namens A - Afghanistan und die Taliban werden nicht genannt, sind aber leicht zu erkennen.
Dazwischen muss man oft herzhaft lachen: Wenn das Navi des fliegenden Teppichs sich im Stockwerk irrt oder wenn die sexhungrigen Dschinn-Frauen die Männer im Porno-Paradies auf Entzug setzen.
Allem heiteren Fabulieren zum Trotz: Die eigentlichen Themen dieses Buchs sind religiöser Fanatismus - Rushdies unfreiwilliges Lebensthema - und die Frage, was Geschichtenerzählen dagegen ausrichten kann. „Im Namen eines göttlichen Wesens können wir machen was zum Henker wir wollen“, sinnieren Zabardast und Zumurrud, die beiden bösen Zauberer, „die meisten Idioten dort unten schlucken es wie eine bittere Pille.“
„Wahrheit gibt es nicht, alles ist relativ, die felsenfeste Überzeugung des einen ist für den anderen ein Märchen“, setzt der als Wissenschaftler der Zukunft getarnte Ich-Erzähler dagegen und erzählt noch tausend und eine weitere Geschichte. Zum Beispiel die von einem Volk, das Neugeborenen die Ohren mit Schlamm verstopft, damit sie nicht vom Geschichten-Parasit befallen werden: Der Stamm fiel der Krankheit des Pessimismus zum Opfer und kannibalisierte sich selbst.
- Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, aus dem Amerikanischen von Sigrid Ruschmeier, C. Bertelsmann, München 2015, 380 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-570-10274-9