„Vergiss Amon, du bist Jenny“
Vor fünf Jahren entdeckt Jennifer Teege, dass sie die Enkelin des NS-Massenmörders Amon Göth ist. Statt zu resignieren, schreibt sie.
Hamburg. Mit 38 Jahren entdeckt Jennifer Teege durch Zufall, wer sie ist. In der Zentralbibliothek findet die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers ein Buch über ihre Mutter und ihren Großvater.
Die Entdeckung ist ein Schock, der ihr bisheriges Leben infrage stellt. Was sie bis dahin nicht wusste, weil sie in einer Adoptionsfamilie aufwuchs: Ihr Großvater ist Amon Göth, Kommandant im Konzentrationslager Plaszow, verantwortlich für den Tod tausender Menschen.
Millionen kennen Göth als Gegenspieler des Judenretters Oskar Schindler aus Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“. Wie geht man mit so einem Familiengeheimnis um? Jennifer Teege hat darüber ein Buch geschrieben: „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“. „Ich bin aus allen Wolken gefallen“, sagt Jennifer Teege über diesen Tag in der Bibliothek.
Die Entdeckung ihrer Familiengeschichte hatte die Hamburger Werbetexterin und Mutter zweier Söhne in eine tiefe Krise gestürzt: Sie nimmt die professionelle Hilfe eines Psychologen in Anspruch, trifft ihre Mutter wieder, die sie viele Jahre nicht gesehen hat und beschäftigt sich intensiv mit der Vergangenheit.
Mit der Journalistin Nikola Sellmair recherchiert sie ihre Familiengeschichte, reist nach Polen und Israel, wo Freunde von ihr leben: „Jede Wahrheit ist besser als Schweigen.“
„Ich war mir nicht mehr sicher: Wer bin ich? Bin ich Jennifer, oder bin ich nur noch Jennifer, die Enkelin von Amon Göth?“, sagt die heute 43-Jährige. Sie liest alles über ihren Großvater, was sie finden kann. „Es ist, als würde ich in ein Gruselkabinett eintreten“, schreibt sie in ihrem Buch: Göth, ab 1943 Kommandant des KZ Plaszow in Krakau, war für seine besondere Grausamkeit bekannt.
Im Film „Schindlers Liste“ erschießt er, gespielt von Ralph Fiennes, vom Balkon seiner Villa aus Häftlinge. 1946 wurde der „Schlächter von Plaszow“ in Krakau gehängt. Jennifer Teege besucht die ehemalige Villa ihres Großvaters in Krakau, die immer noch steht, besichtigt das Schindler-Museum und das ehemalige jüdische Ghetto. Eine Erklärung, wie ihr Großvater so etwas tun konnte, findet sie nicht. „Ich werde es niemals ganz verstehen.“
An Göth, dessen letzte Worte „Heil Hitler“ waren, hat Teege keine Fragen mehr. Anders ist es jedoch mit seiner Lebensgefährtin, Ruth Irene, ihrer geliebten Großmutter, bei der sie sich als Mädchen so geborgen fühlte. Wie konnte sie diesen Mann lieben und seine Taten bis zu ihrem Tod 1983 leugnen? „Um meinen Großvater trauere ich nicht. Aber um meine Großmutter. Ich trauere um den Menschen, der sie nicht war.“
Auch zu ihrer Mutter, die sie seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, versucht Teege eine Annäherung. Das ist für sie besonders schmerzhaft, weil sie sich gleichzeitig auch mit dem Trauma auseinandersetzen muss, dass ihre Mutter sie als Kind zur Adoption freigegeben hat.
Doch die Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit heilt auch Wunden. „Wenn ich jetzt ihre Geschichte betrachte, kann ich besser verstehen, warum sie sich nicht in der Lage sah, mich aufzuziehen“, sagt Teege heute.
Eine besonders schwere Aufgabe hat Teege auch gemeistert: Sie hat ihren Freundinnen in Israel von ihrer Familiengeschichte erzählt — drei Jahre nach ihrer Entdeckung. „Vergiss Amon Göth. Du bist Jenny!“, sagt ihre Freundin Noa.