Wann gibt man Impotenz zu?

Der Schriftsteller Max Frisch hat sein Altern gnadenlos dokumentiert.

Berlin. "Gestern wieder gesoffen" - als Tagebuch-Eintrag weckt das nur gebremste Lektüre-Lust, ob er nun von einem selbst stammt oder von einem Max Frisch. So ist die Veröffentlichung der "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch" 19 Jahre nach dem Tod des Schweizer Autors auch umstritten. Der Frisch-Kollege und -Landsmann Adolf Muschg war im Max-Frisch-Stiftungsrat dagegen ("Text zu müde (...), müde auch des Anspruchs an sich selbst"), ebenso die frühere Sekretärin des Autors, Rosemarie Primault.

Sie hatte beim Aufräumen ihrer Wohnung eine Kopie des Manuskripts gefunden. Das unvollendete Original samt Unterlagen hatte der 1991 mit 79 Jahren gestorbene Frisch vernichtet. Trotzdem hat es der Frisch-Stiftungsrat mit seinem Vorsitzende Peter von Matt als treibender Kraft jetzt veröffentlicht, und man kann froh darüber sein.

Gerade Frischs Einträge als 71-Jähriger über rapide zunehmende Altersmüdigkeit machen den Reiz dieses schmalen Buchs aus. Als Autor ("Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe"), im Bett mit der 32 Jahre jüngeren Gefährtin Alice Lock-Carey ("Wann gibt man die geschlechtliche Impotenz zu? Ich gehe noch immer zur Apotheke"), und auch sonst: "Ich werde ein Greis. Man wird ein Greis, wenn man sich zu nichts mehr verpflichtet fühlt, wenn man nicht meint, irgendjemand in der Welt etwas zu schulden. Was geht mich Israel an?"

Das ist kein enervierendes Selbstmitleid, sondern wie von Matt im Nachwort schreibt, "eine streng gefügte Komposition essayistischer und erzählender Texte, die untereinander so in Beziehung stehen, dass sich ein Geflecht wiederkehrender Themen und Motive ergibt".

Frisch erzählt aus seinem teils New Yorker, teils schweizerischen Alltag. Er schreibt über die Begleitung seines krebskranken Freundes Peter Noll bis zu dessen Begräbnis. Und notiert politische Gedanken über die aus seiner Sicht sehr reale Gefahr eines Atomkrieges zwischen den vom Kalten Krieger Ronald Reagan regierten USA und der noch nicht zerfallenen Sowjetunion.

Diese Teile mit massiver Kritik an der einen Supermacht ("Wie dieses Amerika mich ankotzt!") und Verständnis für die andere ("Was dieser Walesa will, kann die Sowjetunion sich nicht leisten") sind sicher die schwächsten des Buches. Sie können allenfalls als "Meditationsvorlage", so von Matts Leseempfehlung, in Sachen politischer Selbstüberschätzung von Groß-Schriftstellern dienen.

Frisch malt sich inmitten all des gnadenlosen Auflistens eigener Schwächen, des deprimierenden Abstands zu seiner jungen Gefährtin, die ihm beim Wandern enteilt und Tolstoi nur aus dem Film kennt, ein schönes "Lebensabendhaus" aus. Aus weiß gestrichenem Holz, mit vielen Gästezimmern, unter anderem auch "für die eine oder andere frühere Geliebte, jetzt eine reife Frau. Das kann schön sein. Oder mühsam."

Frisch wollte dieses Tagebuch seiner Freundin Alice Lock-Carey zueignen und hat das Projekt abgebrochen, nachdem sie sich 1984 getrennt hatten. Im schmalen Umfang und der deutlich unfertigen Form reicht es wohl nicht an die Klasse seiner fantastischen Tagebücher 1946-1949 und 1966- 1971 heran. "Je länger einer tot ist, umso näher haben wir ihm gestanden", zitiert Frisch in diesem Tagebuch einen "gescheiten Witz" von Kurt Tucholsky. Die posthume Veröffentlichung erinnert auf lesenswerte Weise daran, dass Frisch vielen als Autor sehr zu recht nahegestanden hat.