Kinderbuch Wilde Heldin der Kinderzimmer: Pippi mit 70 keine Spur erwachsen

In 70 Jahren ist Pippi Langstrumpf kein Stück altgeworden. Das verdankt sie nicht nur der Krummelus-Pille, die sie gegen das Großwerden schluckt. Sondern auch Millionen Fans auf der ganzen Welt.

Lächelnd trägt die Schauspielerin Inger Nilsson in einem Film von 1968 als „Pippi Langstrumpf“ an einem kalten Wintertag ihr Äffchen „Herr Nilsson“ auf der Schulter spazieren.

Foto: epa Pressensbild

Stockholm (dpa) - Das berühmteste Mädchen der Welt hätte es vielleicht nie gegeben, wenn nicht ein anderes Mädchen 1941 mit einer Lungenentzündung im Bett gelegen hätte. Es ist Karin, die Tochter der Schwedin Astrid Lindgren. Sie ist sieben Jahre alt. „Erzähl mir von Pippi Langstrumpf!“ bittet sie ihre Mutter. Und die erzählt. Von einem „kleinen Übermenschen“, wie sie selbst sagt, der mühelos Polizisten wie Pferde hochhebt und mangels elterlicher Aufsicht tun und lassen kann, was er will. Als Lindgren nach einem Sturz selbst ans Bett gefesselt ist, schreibt sie alles auf. Im November 1945 erscheinen die Geschichten um Pippi Langstrumpf erstmals als Buch. Die Widmung in dem Exemplar, das Karin Nyman von ihrer Mutter bekommen hat, ist auf den 26. November datiert.

Wegen ihrer ungehobelten Art stößt die Rotzgöre mit den feuerroten Haaren einigen nach dem Erscheinen im Verlag Raben & Sjögren aber bitter auf. Unnormal und krankhaft findet der angesehene Professor John Landquist Pippi. „Kein normales Kind“, kommentiert er in der Zeitung „Aftonbladet“, „isst eine ganze Sahnetorte auf oder geht barfuß auf Zucker. Beides erinnert an die Phantasie eines Irren.“

Der Bonnier Verlag hatte Lindgren zuvor aus ähnlichen Bedenken eine Absage erteilt. „Ich hatte selbst kleine Kinder und stellte mir mit Entsetzen vor, was passieren würde, wenn sie sich dieses Mädchen zum Vorbild nähmen“, gab der Verleger Gerhard Bonnier Jahre nach der Veröffentlichung zu. Er wird sich noch oft die Haare darüber gerauft haben, dass er das Manuskript ablehnte.

Denn Millionen Kinder, erst in Schweden, später in der ganzen Welt, schlossen Pippi auf Anhieb in ihr Herz. Die anarchische Halbwaise wurde zur unumstrittenen Heldin der Kinderzimmer - und ist es bis heute. „Das liegt wohl daran, dass sie so unabhängig von Erwachsenen ist“, sagt Lindgrens Tochter Karin Nyman der Deutschen Presse-Agentur im Interview. „Es ist schön für Kinder, über so jemanden zu lesen.“

Sie lebt mit Pferd und Äffchen in einer kunterbunten Villa, erfindet Wörter wie Spunk und Spiele wie Nicht-den-Boden-berühren, kauft im Laden 18 Kilo Bonbons und schenkt Einbrechern Goldstücke, während ihre Berufswahl noch zwischen „feine Dame“ und „Seeräuber“ schwankt: Mit Pippi wird es nie langweilig. Gegen das Großwerden schlucken sie und ihre Freunde Thomas und Annika Krummelus-Pillen, die Erbsen verdächtig ähnlich sehen.

Ihre literarische Mutter Astrid Lindgren brauchte keine Zauberpillen, um nicht erwachsen zu werden. „Sie hat verstanden, wie es ist, ein Kind zu sein“, sagt die schwedische Schauspielerin Inger Nilsson, die Pippi in den Verfilmungen spielte, über Lindgren. „An den Büchern kann man sehen, dass sie als Kind selbst glücklich war, und sie liebte Kinder wirklich.“ Ihre Kindheit ist für Lindgren Inspiration für ihre Geschichten. In dem Vorbild für den Baum, aus dem Pippi Kindern Limonade serviert, kletterte die Autorin auch im hohen Alter noch herum: Er steht im Garten von Lindgrens Elternhaus in Vimmerby.

Dass die Schwedin das kleine Mädchen erfand, das Autoritäten infrage stellt und einen eigenen Kopf hat, war wohl auch eine Reaktion auf das Grauen des Zweiten Weltkriegs. „Man kann vielleicht glauben, dass es so eine Art Befreiung war, über jemanden zu schreiben, der sich nicht hat unterdrücken lassen, der diese souveräne Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen hatte und sich keinen Deut um Konventionen geschert hat“, sagt Nyman. Pippi wird als Feministin und Anarchistin interpretiert, einige sehen in ihr gar die Begründerin des Punk 40 Jahre vor den Sex Pistols.

Während der erste Pippi-Langstrumpf-Band 1945 zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Schweden erscheint, kommt er in Deutschland erst vier Jahre später auf den Markt, als Lindgren den deutschen Verleger Friedrich Oetinger kennenlernt. Auch wenn Pippi heute mit rund 66 Millionen verkauften Büchern Lindgrens erfolgreichste Erfindung ist, war es nicht ihre eigene Lieblingsfigur: Das war Michel aus Lönneberga, sagt Lindgrens Familie. Auch ein Lausekind.