Wortzauberer und Weltenerzeuger: Urs Widmer gestorben
Zürich (dpa) - Urs Widmers Autobiografie enthält eine Warnung. Doch kaum jemand nahm sie ernst, als seine „Reise an den Rand des Universums“ im vergangenen September erschien. Eine Autobiografie sei „das letzte Buch“, schrieb Widmer.
Danach komme nichts mehr. „Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.“
Am Mittwoch starb der große Schweizer, dessen Werke nicht selten in einem Atemzug mit jenen von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt genannt werden. Er wurde 75 Jahre alt, und die Autobiografie erwies sich als sein letztes Buch.
Widmers Warnung hatte man vor allem deshalb für einen Bluff gehalten, weil „Reise an den Rand des Universums“ geradezu nach einer Fortsetzung schreit: Sie hört auf, wo Lebensrückblicke anderer Autoren erst richtig in Fahrt kommen. Mit seinem 30. Lebensjahr nämlich. Jenem Jahr, in dem Widmers Debüt „Alois“ für Aufregung in Europas literarischen Debattierrunden sorgte.
Die Erzählung war so konsequent Popkunst, wie bis dahin nichts Geschriebenes in deutscher Sprache. Mit einer Mischung von Comic, Action, Philosophie und Fantasie ohne wirkliche Handlung griff Widmer 1968 den traditionellen Literaturbegriff an. Bestens schien zur poppigen neuen „Schreib-Art“ sein wuscheliger Lockenkopf zu passen (der später einer umkränzten Halbglatze wich).
Sein Schreibstil wandelte sich, wurde gefälliger, doch immer schuf er mit großer Fabulierkunst und Tiefe sprachliche Wunderwelten. Wenn Urs Widmer in seinem Gartenhäuschen im Zürcher Stadtteil Hottingen seine alte Schreibmaschine bearbeitete, dann war ein großer Wortzauberer am Werk. Seine Werkstatt erinnerte die Schweizer Literaturkritikerin Beatrice von Matt an das „Laboratorium eines Alchimisten“. „Welten werden hier erzeugt, erkundet, verwandelt“, schrieb sie im Nachwort der „Gesammelten Erzählungen“, die Widmers Hausverlag Diogenes zu seinem 75. Geburtstag in einer Schmuckausgabe herausbrachte.
In Basel am 21. Mai 1938 geboren und dort 1966 promoviert mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsprosa, versuchte Widmer sich erst relativ spät als Schriftsteller. Sein Vater, Walter Widmer, ein angesehener Kritiker, Übersetzer und Gymnasiallehrer in Basel, befreundet mit Heinrich Böll, wollte immer einen Roman schreiben - und tat es doch nicht. Solange der Vater lebte, traute sich auch der Sohn nicht. Stattdessen förderte er als Verlagslektor die Schreibkunst von anderen.
Doch als der Vater mit 62 Jahren starb, „verwandelte ich mich, fast auf der Stelle, in einen Schriftsteller“, berichtete Widmer in der „Basler Zeitung“. Aber ebenso wichtig sei für ihn 1967 der Wegzug aus der Schweiz nach Frankfurt am Main gewesen. 17 Jahre lebte und schrieb Widmer in Deutschland. „Da kam ich erst richtig auf die Welt und lernte, was Geschichte bedeutet.“
45 Jahre liegen zwischen „Alois“ und der - genau genommen unvollendeten - Autobiografie. Und rund 30 Prosabände, ein gutes Dutzend Theaterstücke, weit mehr Hörspiele, einige große Essays. Oft sind seine Geschichten komisch, manchmal erscheinen sie aberwitzig, zuweilen stimmen sie tieftraurig.
Etliche Literaturpreise weisen ihn als Schriftsteller von Rang aus. Seinen Stil zeichne „der Wechsel der Töne aus: Ironie und Satire stehen neben surrealer und realistischer Präzision“, urteilte die Jury, die Widmer 2007 den Friedrich-Hölderlin-Preis zuerkannte.
Gewürdigt wurde damit auch sein bekanntestes Werk, die Trilogie „Der Geliebte der Mutter“ (2000), „Das Buch des Vaters“ (2004) und „Ein Leben als Zwerg“ (2006). Darin, wie in vielen seiner Arbeiten, verknüpfte Widmer individuelle Schicksale mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Einen Riesenerfolg als Dramatiker erlebte er 1997 mit „Top Dogs“. Das Stück über den Absturz von Spitzenmanagern hat bis heute nichts von seiner gesellschaftlichen Bedeutung eingebüßt. Daran knüpfte er 2012 mit „Das Ende vom Geld“ an. In dem Drama lässt Widmer die Mächtigen der Finanzwelt zu Tieren werden. Es ist ein Text voller Wut. Im Theater sei er offener politisch als in seinen Erzählungen, bekannte Widmer. „Ich kann da meine aggressive Seite ausleben“, sagte er in einem Interview des Zürcher „Tages-Anzeiger“.
Doch seine Literatur wollte er nicht als politisches Bekenntnis verstanden wissen, vielmehr als „ein implizites Plädoyer gegen jede Ideologie“. Zugleich sah Widmer für die Schreibkunst eine Mission: „Es genügt nicht, wenn Literatur nur den Ist-Zustand schildert“, sagte er einmal. „Sie muss auch utopische Qualitäten haben. Man muss daran erinnern, dass die Welt einmal schön war.“