Zeitenwende: Bücherflut zum Arabischen Frühling
Paris (dpa) - Das zur Neige gehende Jahr läutete in Nordafrika eine Zeitenwende ein. Von Tunesien ausgehend stürzten die Völker im Maghreb ein autokratisches Regime nach dem anderen. Das Jahr endet entsprechend mit einer Bücherflut, in denen der Arabische Frühling bewertet wird.
Im Nordafrika historisch nahestehenden Frankreich sind es renommierte Denker wie Tahar Ben Jelloun („L'étincelle“, „Par le feu“) oder der Philosoph Bernard-Henry Lévy („La guerre sans l'aimer “), die mit ihren Werken den epochalen Wandel aufarbeiten. In Deutschland schlägt die Stunde der journalistischen Nahost-Experten, die der Bedeutung der historischen Umwälzung nachspüren.
Michael Lüders gehört als langjähriger Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“ dazu. Er hält die „Tage des Zorns“, so sein Buchtitel, für eine historische Zäsur: „Jahr Null der Zeitenwende“. Sein ebenso kenntnisreich wie analytisches Buch gehört zweifellos zu den Referenzwerken rund ums Thema. Er widmet sich den historischen Zusammenhängen wie den sozial-kulturellen Hintergründen und wagt Prognosen, wie es in der Region weitergehen könnte.
Zudem spürt er dem Unbehagen des Westens nach: „Die arabische Revolution verschiebt die Bilder, die wir vom Orient im Kopf haben. Sie schafft Unsicherheiten und Ängste.“ Von der Verzweiflungstat des tunesischen Schulabbrechers und Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi aus Sidi Bouzid zum Auftakt des Umbruchs ausgehend zeichnet er den Weg der Proteste nach und meint: „So spontan die ersten Demonstrationen in Sidi Bouzid und Umgebung auch waren, stießen sie doch nicht allein über die neuen Medien auf Resonanz.“
Einen ganz anderen Ansatz hat der langjährige Nahostkorrespondent Karim El-Gawhary gewählt, der kurz vor dem Beginn der Umwälzungen Twitter und Facebook als Stilmittel für sich entdeckte. Der für die taz, den ORF und andere Medien tätige Journalist war Augenzeuge und lässt mit kraftvoller Sprache in seinem „Tagebuch der Arabischen Revolution“ die Vorgänge noch einmal mit erleben. Der Leser wird quasi Zeuge, wie sich die ersten Proteste zur Revolution verdichten.
El-Gawhary beansprucht nach Verlagsangaben, „inmitten der Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen (...) als einziger deutschsprachiger Journalist in allen drei Ländern direkt vor Ort“ gewesen zu sein. Sein Buch sei keine Analyse, schreibt er, sondern der Versuch, mit den Ausdrucksformen der Arabischen Revolution Neues auszuprobieren: „Mit aus dem Moment geschriebenen und gesprochenen Beiträgen eine Unmittelbarkeit herzustellen und den Leser auf eine ungestüme, ungewöhnliche revolutionäre Abenteuerreise mitzunehmen.“ Er hat daher Blog-Einträge, Twitter-Tweets und Facebook-Postings mit seinen Reportagen und Live-Gesprächen als Buch zusammengefasst.
Für Volker Perthes hat „Der Aufstand“, so der Titel, neben Aufbruchstimmung für Unruhe und Unsicherheit gesorgt. Er vertritt die Ansicht, dass „die heute 20- bis 35-Jährigen in der arabischen Welt (...) eine von gemeinsamen Erfahrungen geprägte Generation bilden.“ Eine Kernthese des Direktors der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: „Von Rabat bis Riad (...) ist dies eine Generation, die sich um ihre Chancen zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Teilhabe betrogen sieht.“
Die politische Zeitenwende sei auch eine Generationenwende: „Die arabischen Aufstände von 2011 sind in diesem Sinne eine Revolte der arabischen '2011er': Es sind politische Revolten, die aber immer auch den Aspekt einer Generation, die sich auf die Bühne bringt, und oft genug den eines Generationenkonflikts beinhalten.“
Michael Lüders: Tage des Zorns, C.H. Beck, München, 207 Seiten, 19,95 Euro ISBN 978-3-406-62290-8
Karim El-Gawhary: Tagebuch der Arabischen Revolution, Verlag Kremayr & Scherlau, Wien, 240 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-218-00829-3
Volker Perthes: Der Aufstand, Pantheon Verlag, München, 223 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 978-3-570-55174-5