Brandauer als „König Lear“ am Burgtheater gefeiert
Wien (dpa) - „Reif sein ist alles“, sagt Edgar im letzten Akt. Der Satz des einzig braven Kindes im „König Lear“ klingt wie ein Appell für Gelassenheit und Geduld.
Doch im Stück von William Shakespeare ist fast niemand geduldig, fast niemand gelassen, sind die Figuren voller Wut, Hass und zerstörerischer Liebe. Mit einer Liebesprobe hat der alte, gar nicht weise König eine katastrophale Kette von Ereignissen ausgelöst. Die Rolle des zuletzt irren, aber einsichtigen Herrschers hat am Samstagabend im Wiener Burgtheater erstmals Klaus Maria Brandauer gespielt. Das Publikum feierte den 70-jährigen Bühnen- und Filmstar nach mehr als vier Stunden mit viel Applaus.
Mit Vollbart und langer Königsmähne, anfangs mit Krone, dann mit Pudelmütze und Gräserkranz flüstert und schreit sich Lear die Empörung über das kaltherzige Verhalten seiner Töchter aus dem Leib. Brandauer schenkt mit seinem Können dem Choleriker Lear beklemmende Intensität. „Wie es schmerzt, ein undankbares Kind zu haben.“ Er wollte sein Reich unter den drei Töchtern aufteilen, sein Erbe organisieren, sich dafür Unterhalt und Pflege sichern. Doch der Plan scheitert. Weil die jüngste Tochter Cordelia sich nicht zum erwarteten Liebesschwur an den Vater aufraffen mag und die zwei älteren Töchter ihren Vater Szene für Szene demontieren.
Die Welt, die auch in diesem Shakespeare-Stück aus den Fugen ist, ist im Burgtheater eine leere Bühne (Ferdinand Wögerbauer). Nichts gibt Halt, nichts gibt Orientierung. Die Figuren durchmessen den Raum der Möglichkeiten - eine auch Angst machende Vorstellung für die Menschen des 17. Jahrhunderts, die gerade im Alter auf traditionelle Autorität und feste Familienbande vertrauten. Die Zeitgenossen Shakespeares, ungeschützt von Versicherungen und „Generationenvertrag“, fragten sich, welche Unterstützung sie im Alter von ihren Kindern erwarten konnten.
Regisseur Peter Stein, Kenner Shakespeares und Anhänger der Werktreue, führt bei seinem Burgtheater-Debüt das Ensemble mit stilsicherer Hand durch große Teile des Stücks. Die Inszenierung besticht lange Zeit mit Schlichtheit, durch Theater ohne Ablenkung. Das weiße Feldherren-Zelt, das sich für die Versöhnungsszene zwischen der von Lear verstoßenen Cordelia und dem wahnsinnigen Ex-Herrscher über beide herabsenkt, ist noch stimmig - in diesem Moment bietet die Bühne erstmals einen geschützten Raum.
Verstörend wirkt dagegen das von Klavier und Hall-Effekt begleitete minutenlange Fechtduell auf Leben und Tod zwischen den ungleichen Söhnen des Grafen Gloster, dem gutherzigen Edgar (Fabian Krüger) und dem schurkisch-bösen Edmund (Michael Rotschopf). Selbst bei Lears Tod kehrt keine Stille ein, sondern sorgen ein paar Takte Klavier für kalkulierte Emotion.
Aus dem hochkarätigen Ensemble ragt noch der Hamburger Michael Maertens als Narr heraus. Beim vor sechs Jahren umjubelten „Lear“ von Luc Bondy am Burgtheater gab Birgit Minichmayr einen ätzend-klugen Narren. Maertens ist der Till-Eulenspiegel-Schelm, weise und nett schleicht er mit ständig gebeugtem Knie über die Bühne, als einziger geschmeidig schon im Gang, umgeben von so viel Starrheit und Stolz.
„König Lear“ ist eine blutige Betrachtung des Alters, des Leidens, des fragilen Fundaments von Familie und Autorität. Shakespeare selbst war um die 40 Jahre alt, als er das Stück schrieb. Eine Zeit höchster Produktivität, die er nutzte, um zu sparen und im Alter auf niemanden angewiesen zu sein. Nie wollte er in die Lage des sagenhaften Königs aus Britannien kommen. Der hat - ohne Not - jeden Halt verloren: „Wer kann mir sagen, wer ich bin?“