Castorf inszeniert Sinnsuche im Reich der Sinne

Hamburg (dpa) - „Ich habe nicht geliebt - und das ist der Tod“, sagt der Pastor und haut mit letzter Kraft mit der Faust auf den Tisch seines von Kerzen schwach erleuchteten Ess- und Trinkzimmers. „Die Verwesung ist in mir.“

Foto: dpa

Zu ihren Müttern habe er sich nur durch die Triebe hingezogen gefühlt, erklärt er seinen drei halb erwachsenen Kindern. So bleibt dem Kirchenmann (naiv-lüstern und verzweifelt: Josef Ostendorf) nur - eine schwarze, mit einem weißen Gekreuzigten geschmückte Maske auf die Stirn geschoben - mit der Hand im blutigen Darm zu wühlen und den mächtigen Bauch zu kneten. Bevor er sich erschießt, gibt er Sohn Ephraim (Christoph Luser), Tochter Johanna (Jeanne Balibar) und dem unehelichen Jakob (Samuel Weiss) auf, fortan Gott und Sinn in Lust und Qual zu suchen.

Mit dem Ergebnis eines gigantischen, mehr als fünfstündigen Konglomerats aus Wollust und Inzest, Gewalt und Tod sowie gefühlt endlosen Debatten über den Sinn des Theaters - viel Musik, Video-Livebilder und Fremdtexte inklusive. Frank Castorf (63), so gefeierter wie geschmähter Regie-Altstar, hat am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg „Pastor Ephraim Magnus“ inszeniert. Das extrem radikale, grobschlächtig sündentriefende, einst Skandal machende, dann kaum je gespielte Jugendwerk des Hamburgers Hans Henny Jahnns von 1919 entstand unter dem Eindruck des Weltkriegs in Norwegen.

Vom Premierenpublikum gab es Donnerstagabend am Ende freundlichen Beifall und Pfiffe. Etliche Zuschauer hatten den Saal da bereits während der Vorstellung und in der Pause verlassen.

Überwältigender Dreh- und Angelpunkt der Aufführung ist das altertümlich verwinkelte Bühnenbild Aleksandar Denics, das immer wieder um sich selbst kreist. Dessen auffälligster Bestandteil ist eine riesige Teilrekonstruktion der 1945 zerbombten Potsdamer Garnisonkirche, um deren Wiederaufbau heute gerungen wird - Symbol für die Polarität von Glauben und Gewalt eines für Jahnn verwerflichen Christentums. Drumherum geht es labyrinthisch zu - eine Bibliothek im Stil des 19. Jahrhunderts, Bierkästen und eiskalte Colaflaschen, Streckbank, Hühner im Käfig und eine Orgel, an der auch gespielt wird, gehören dazu. Sowie Helfer mit Kamera und Mikrofon, die das auch im Inneren des Gehäuses Gespielte auf große Leinwände bannen, nicht zuletzt die oft hörbar zum Einsatz kommende Souffleuse plus angenehmer Jazz-Sound.

In diesem Wust brilliert ein intensiv und in steter Aktion in Wahnsinn und Tod wankendes Ensemble. In bordellartigen, blutrünstigen Szenen verkörpert es Lebenssehnsucht und brutale Desillusioniertheit einer Generation, die wie der junge Jahnn (1894-1959, „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“, „Perrudja“) an christlich-humanistische Werte des Abendlands nicht mehr glauben mag und sein Heil in moralischer Grenzüberschreitung und sexueller Ausschweifung sucht. Zum neunköpfigen Team gehören auch Bettina Stucky (Staatsanwalt) und Michael Weber (Verteidiger), die als weltliche Repräsentanten der Gerechtigkeit nur mehr eine schrille Lachnummer darstellen. Bei alledem bleibt Castorf, der das im Original angeblich 15 Stunden dauernde Stück immerhin um einiges kürzte, anscheinend nah am Geiste Jahnns, so dass der Abend insgesamt doch wie eine Verbeugung vor dem vielerorts vergessenen Autor wirkt.

Der gern provozierende Regisseur, der seinen Weg in der DDR begonnen hat, gilt als Exponent des Postdramatischen Theaters, das sich Stücke freizügiger für den Eigengebrauch zurechtzimmert. Seit 1992/93 leitet er die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Meist geraten seine Arbeiten umstritten, was den Künstler zu beflügeln scheint. Es gäbe „nichts Schöneres, als wenn 1000 Leute „Buh“ rufen“, erklärte er jüngst im Interview mit einer Hamburger Zeitung.

Castorfs Münchner Inszenierung von Brechts „Baal“ wurde gerade abgesetzt, weil seine Auffassung den Erben der Rechte missfiel. Der Volksbühnen- Vertrag des 63-Jährigen läuft noch bis 2017 - den will Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner (SPD) jedoch nach dann 25 Jahren nicht verlängern.